Die Gewählten

Zum Vergrößern klicken

Eine kurzweilige Langzeitstudie über fünf junge Politiker, zwei Frauen und drei Männer, die es 2009 in den Bundestag schaffen. Eine Legislaturperiode lang begleitet die Kamera das ungleiche Quintett und schildert, wie die Abgeordneten-Anfänger im Räderwerk des  Politbetriebs zurechtkommen. Die Ambitionen sind groß, der Alltag mitunter mühsam. Vor dem Bohren dicker Bretter stehen endlose Ausschuss-Sitzungen, Hickhack in den Partei-Hierarchien sowie eine Flut an Terminen. Die Kamera ist mittendrin statt nur dabei. Die fünf höchst unterschiedlichen Protagonisten erweisen sich, auskunftsfreudig und selbstkritisch wie sie sind, als lohnende Objekte dokumentarischer Begierde: Wenn Politik auf Abgeordnete trifft!

Webseite: www.dejavu-film.de

D 2014
Regie: Nancy Brandt
Darsteller: Steffen Bilger (CDU), Sebastian Körber (FDP), Daniela Kolbe (SPD), Agnes Krumwiede (Bündnis90/Die Grünen), Niema Movassat (Linke)
Filmlänge: 102 Minuten
Verleih: déja-vu-Film
Kinostart: 5.11.2015
 

FILMKRITIK:

Sie fühle sich wie „ein kleiner naiver Goldfisch unter Haien”, beschreibt Pianistin Agnes Krumwiede, die Abgeordnete von Bündnis90/Die Grünen, ihre ersten Eindrücke am neuen Arbeitsplatz Bundestag. Ihren Kollege Sebastian Körber von der FDP, ein Architekt, plagen derweil pragmatischere Probleme: Er verirrt sich im großen Abgeordnetenhaus und sucht vergeblich sein neues Büro. Die Anlaufprobleme der MdB-Frischlinge sind freilich bald überwunden. Die Frau von den Grünen erhält überraschend schnell die Chance auf ihre Jungfernrede. Mehr Hip Hop-Projekte an den Schulen fordert die Kulturexpertin engagiert. Die Aufmerksamkeit der Kanzlerin scheint sie damit zwar nicht so recht zu erreichen, die tippt während der Rede unbeeindruckt in ihr Smartphone. Doch dafür gab es allerlei Zwischenrufe, wie die junge Politikerin anschließend in den peniblen Protokollen der Stenografen begeistert feststellt. Damit nicht genug: Weil Jürgen Trittin seiner jungen Kollegin auf ihrem Weg zurück vom Mikrophon vor laufenden Kameras auffallend nachblickt, machen die Medien sogleich ein kleines Fass auf: Krumwiede findet sich als „Miss Bundestag“ im Boulevard wieder und muss fortan zum Frauenbild ihrer Partei Stellung beziehen. Ihre Kollegin Daniela Kolbe von der SPD, eine Physikerin aus Leipzig, macht derweil schnell Karriere in den Gremien, sie wird Vorsitzende der Enquete-Kommission über „Wohlstand in Deutschland“ und schafft es damit in die Hauptausgabe der „Tagesschau“. Für die Männer fällt die Medien-Präsenz bescheidener aus. Als sich FDP-Mann Sebastian Körber in seinem Wahlkreis für einen barrierefreien Bahnhof einsetzt, ist lediglich der Fotograf der Lokalzeitung anweisend, sein CDU-Kollege Steffen Bilger, ein Jurist, muss, als Vorsitzender des Verkehrsausschusses, auch schon mal in einem Elektroauto sitzend für ein Auto-Magazin posieren. Wenn Niema Movassat (Die Linke) bei einer Veranstaltung bis spät in die Nacht über das eher spröde Thema „Deutscher Kolonialismus“ diskutiert, sind Medien gänzlich rar gesät. Am Ende verpasst er nicht nur das Taxi, sondern zudem den Geburtstag seiner Freundin.
 
Mit kluger Zurückhaltung lässt Regisseurin Nancy Brandt ihre Protagonisten für sich selbst sprechen. Die Politiker plaudern, oft nachdenklich, bisweilen eitel, manchmal ratlos – aber immer klingt es erfrischend authentisch. Als gewiefter Medienprofi entpuppt sich der einstige Vorsitzende der Jungen Union: Mit jungenhaftem Grinsen lächelt der Schwabe alle Probleme jovial hinweg oder präsentiert sich bei Auftritten telegen mit seiner attraktiven Gattin. Eher verschüchtert derweil die Damenriege. Von der SPD-Lady kommt der Freund nur kurz ins Bild. Die Kollegin der Grünen will über das Privatleben möglichst gar nichts preisgeben – die unfreiwilligen Schlagzeilen der „Miss Bundestag“ hat die Pianisten misstrauischer im Medienumgang gemacht. Als sie später schwanger im fröhlichen Hippie-Kleid bei der bayrischen Delegiertenversammlung einen aussichtsreichen Listenplatz verpasst, sucht sie schluchzend Trost in den Armen des gemütlichen Anton Hofreiter oder lässt sich von Claudia Roth tätschelnd aufmuntern: soviel Mensch muss sein!   
 
Scheitern gehört, quer durch alle Fraktionen, zum Job der Politiker. Der MdB der FDP etwa muss nicht nur der unzufriedenen Basis den plötzlichen Atomausstieg erklären, auch seine Anstrengungen um den behindertenfreundlichen Umbau des Bahnhofs in seinem Wahlkreis verpuffen ergebnislos. Für den CDU-Mann gilt es unterdessen den überraschenden Regierungswechsel in Baden-Württemberg zu verkraften: Plötzlich sind für ihn die gewohnten kurzen Drähte zur Macht im Ländle gekappt. Den massiven Protest gegen das Bahnprojekt Stuttgart 21 habe man wohl unterschätzt räumt Bilger, wie immer lachend, offen ein. Und nutzt sofort die Chance, bei der Neuaufstellung der gebeutelten Konservativen im Südwesten in die Pool-Position zu kommen. Prompt gelingt dem Strahlemann der Karrieresprung zum Bezirksvorsitzenden der CDU Nordwürttemberg. SPD-Frau Kolbe muss im Osten gleichfalls um Sympathien bei der Basis buhlen. Gewinnt die Konkurrentin bei der Kür der kommenden Kandidaten, ist es plötzlich vorbei mit der Karriere. Immerhin hätte sie dann wieder Zeit für ein Sozialleben statt, wie sie selbstkritisch einräumt, die Mitarbeiter als Freunde zu missbrauchen.
 
Er ist kein Ponyhof, dieser Bundestag. Ein „Hamsterrad“ stöhnt die Sozialdemokratin, ein „Haifischbecken“ klagt die Grüne. Der Vertreter der Linken gibt sich gleichfalls demütig: „Ein Antrag im Bundestag kann nicht die Welt verändern, das schaffen nur gesellschaftliche Bewegungen von außen.” Gleichwohl ackern und rackern sie alle unverdrossen. Jeder und jede mit den eigenen Träumen – und dem individuellen Umgang mit ihren Niederlagen. Von der Abgebrühtheit der altgedienten Platzhirsche im Politbetrieb, das zeigt diese Doku mit leichtem Federstrich, sind die Neulinge bei ihren ersten, holprigen Auftritten weit entfernt. Ebenso glaubhaft wird geschildert, wie die jungen Volksvertreter bei ihrer weiteren Karriere den Ritualen des Machtapparates, mehr oder weniger erfolgreich, widerstehen. „Ich will trotzdem noch die Welt retten” zieht die wiedergewählte Daniela Kolbe rückblickend ihre persönliche Bilanz nach den ersten vier Jahren.
 
Den knallharten Reportage-Blick hinter die Kulissen der politischen Macht bietet „Die Gewählten“ nicht, sondern präsentiert sich lieber leichtfüßiger in feuilletonistischer Gangart. So entsteht eine ebenso aufschlussreiche wie kurzweilige Langzeitstudie zum Thema: Wenn Politik auf Abgeordnete trifft!
 
Dieter Oßwald