Die Karte meiner Träume

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Der Regisseur von „Die fabelhafte Welt der Amélie“ hat wieder einmal tief in der Kindheit geschürft und ist fündig geworden. Diesmal ist es der für sein Alter viel zu kleine T. S., der uns ganz neue Blicke auf das Leben schenkt - in einem poetischen, verschrobenen, so naiven wie philosophischen Film nach dem Erfolgsroman des Amerikaners Reif Larsen. Es sind kraftvolle und bizarre Bilder, mit denen Jeunet die etwas seltsame Welt zeichnet, in der T. S. aufwächst, und dabei die großen Lebensthemen Abschied und Trauer, Schmerz und Glück mit philosophischer Eleganz in ein vielschichtiges Kindheitsmosaik hineinwebt. Ein wunderbares kleines Schauspielerensemble verschreibt sich den eigenwilligen Charakteren mit Hingabe, allen voran der junge Kyle Catlett als T. S., der uns mit dieser eigenwilligen Hauptfigur das Sehen neu lehrt, wofür Jeunet zum ersten Mal auch die 3 D-Technik benutzt, - in symphatischer Unvollkommenheit.

Webseite: www.diekartemeinertraeume-derfilm.de

OT: The Young and Prodigious T.S. Spivet
FR, CA 2013
Regie: Jean-Pierre Jeunet
Drehbuch: Jean-Pierre Jeunet und Gauillaume Laurant
Darsteller: Helena Bonham Carter, Callum Keith Rennie, Kyle Catlett, Niamh Wilson, Judy Davis
Verleih: DCM
Länge: 105 Min
Kinostart: 10.7.2014
 

Pressestimmen:

"'Amélie'-Regisseur Jeunet setzt in dieser Verfilmung von Reif Larsens Bestseller mit fiebertraumschönen Bildern und perfekt abgestimmter 3-D-Technik einmal mehr neue visuelle Maßstäbe."
KulturSPIEGEL

"Poetisch... erlaubt es dem Publikum, sich davonzuträumen."
Die Zeit online

FILMKRITIK:

Ein kleiner Junge verlässt das Haus seiner Kindheit und zerrt einen riesigen Koffer hinter sich her. Schon nach wenigen Metern stemmt er ihn vor seinem Körper nach oben, um auf diese Weise ein kleines Stück vorwärts zu kommen, aber es ist aussichtslos. Der Junge ist nur wenig größer als der Koffer. Schließlich schleift er ihn bis zur Scheune, in der er einen Handwagen findet, auf dem 'Layton' geschrieben steht. In der nächsten Einstellung sehen wir ihn auf der Landstraße, den Wagen mit dem Koffer mühsam hinter sich herziehend, so kommt er vorwärts, immerhin.
 
Der Junge heißt T. S. Spivet, ist zehn Jahre alt und gerade im Begriff, sich von der Ranch seiner Familie in Montana auf den Weg nach Washington D. C. zu machen in das berühmte Smithsonian Museum, um dort einen Preis für wissenschaftliche Leistungen in Empfang zu nehmen. Da wissen wir schon, dass die dortigen Verantwortlichen eigentlich seinen Vater erwarten, und wir ahnen, dass dieser eigenwillige Junge nicht nur des Preises wegen sein Elternhaus verläßt, um quer durch ganz Amerika zu reisen.
 
Der Regisseur von „Die fabelhafte Welt der Améli“ hat wieder einmal tief in der Kindheit geschürft und ist fündig geworden. Diesmal ist es der für sein Alter viel zu kleine T. S., der uns ganz neue Blicke auf das Leben schenken wird. Jean-Pierre Jeunet schrieb gemeinsam mit Gauillaume Laurant auch das Drehbuch zu diesem poetischen, etwas verschrobenen, gleichzeitig naiven und philosophischen Film nach dem Erfolgsroman des jungen amerikanischen Autors Reif Larsen. Es sind wunderbar kraftvolle und dann wieder ganz bizarre Bilder, mit denen Jeunet in einer unendlichen Detailverliebtheit die etwas seltsame Welt zeichnet, in der T. S. aufwächst. Denn seine Familie ist alles andere als normal, zumindest nicht in dieser Zusammensetzung. Der Vater ist ein Cowboy, der aus einem anderen Jahrhundert zu stammen scheint, die Mutter eine emanzipierte Wissenschaftlerin, die sich in ihrer Suche nach seltenen Insekten verliert, die Schwester ein eher normaler Teenie mit Starallüren, die aber ununterbrochen an dieser Familie leidet, und selbst der Hund ist depressiv und frisst Metalleimer. Da war Layton, so scheint es, der einzig Normale. Aber der Zwillingsbruder von T. S. ist tot.
 
Es sind auch die kleinen, scheinbar abwegigen Momente, die den Film so kostbar machen, etwa wenn T. S. auf seinem Trip einem alten Landstreicher begegnet, der ihm zwar Lebensweisheiten in Form von Märchen vermittelt, die T. S. als unwissenschaftlich abschmettert. Dennoch hört er dem Alten gebannt zu, wenn der ihm weismachen will, dass seine Stiefel einmal Jonny Cash gehörten, und wir erinnern uns, dass auch Jonny Cash als Kind seinen Bruder  verlor und sein Leben lang an dieser vermeintlichen Schuld trug.

Der Film erzählt diese tragische Vorgeschichte nicht linear, sondern in ungeordneten Sequenzen als  traumatische Erfahrung aller Familienmitglieder, die jedes von ihnen anders verarbeitet oder verdrängt hat. Jeunet nutzt dabei vielfältige Formen von Rückblenden oder verknüpft Filmbilder mit Zeichnungen von T. S., um neben dem äußeren Geschehen immer auch dessen inneres Erleben ins Bild zu bringen. Auf diese Weise verweben sich die vielen Parallelwelten, in denen sich T. S.  bewegt, zu einem Gesamtbild von großer atmosphärischer und thematischer Dichte, entsteht ein vielschichtiges Kindheitsmosaik, in das die großen Lebensthemen Abschied und Trauer, Schmerz und Glück mit philosophischer Eleganz eingefügt sind.
 
Das ist manchmal verwirrend und verspielt, aber immer von einer kraftvollen Bildsprache, die einen regelrecht erdet, wenn man diesen kleinen klugen Menschen durch die einsamen Weiten Montanas ziehen oder ihn zwischen den Gleisen eines  Güterwagenbahnhofs fast verschwinden sieht und doch immer spürt, dieser staunenswerte Junge geht nicht verloren.
 
T.S. wird außergewöhnlich souverän von Kyle Catlett gespielt, der seiner Filmfigur sicher nicht unähnlich ist. Hochbegabt und hochsensibel sieht er immer auch hinter den äußeren Schein der Dinge, der Menschen, der Beziehungen, hat er eine unbändige Neugier, zu erforschen, wie die Welt funktioniert, und was die Natur uns Menschen voraus hat, was er mit geradezu gnadenloser Genauigkeit beobachtet. Manchmal machen sich seine Zeichnungen davon selbständig und fliegen so direkt auf den Zuschauer zu, dass man danach greifen, sie be-greifen möchte. Und wutsch, sind sie vorbeigeflogen ...
 
Man merkt dem 3 D – Film an, dass sein Regisseur diese Technik erst beim Benutzen Stück für Stück erforscht hat, genauso wie das sein Filmheld tut mit den Dingen und Menschen, die ihm auf seiner Reise begegnen.
 
Das kleine, ausgesuchte Schauspielerensemble mit Helena Bonham Carter und Callum Keith Rennie als seine Eltern und Niamh Wilson als Schwester spielt mit Hingabe alle Facetten der eigenwilligen Charaktere aus. Und Judy Davis schafft als Stellvertreterin einer Medienwelt, die sich den Jungen krallt,  eine so wunderbar grelle Figur, die letztlich als Parodie ihrer selbst auf der Strecke bleibt. Das alles gelingt Jeunet ohne Moralismus und Sentimentalität, sondern satirisch grotesk und bisweilen sehr komisch. Nur am Schluß setzt er einen starken emotionalen Paukenschlag, bei dem der Junge sich in einem Akt der Selbstbefreiung Zugang zu seinen Gefühlen verschafft, während die Erwachsenen unechte Tränen vergießen.

Ein wunderbarer Film für neugierige Erwachsene, und auch für Familien mit größeren Kindern ein ganz sicher anregendes gemeinsames Erlebnis.
 
Caren Pfeil