Französische Komödien bieten doch immer wieder etwas Neues: Hier sind es die vielen überraschenden Wendungen in einer originellen Geschichte: Zwei Brüder lernen sich erst als Erwachsene kennen, weil sie bei verschiedenen Adoptiveltern aufwuchsen. Der eine, Thibaut, ist reich, berühmt und krank – die Knochenmarkspende seines Bruders könnte ihn retten. Der andere Bruder, Jimmy, lebt in bescheidenen Verhältnissen. Beide sind hoch musikalisch: Thibaut hat als Dirigent Karriere gemacht, und Jimmy spielt Posaune im Dorforchester.
Der Regisseur Emmanuel Courcol setzt statt auf rührselige Klischees auf unerwartete Ereignisse, mit denen er die Handlung immer wieder in eine neue Richtung bringt. Dabei kann er sich auf zwei tolle Hauptdarsteller verlassen: Benjamin Lavernhe („Birnenkuchen und Lavendel“) und Pierre Lottin („Ein Triumph“).
Originaltitel: En fanfare
Webseite: https://www.neuevisionen.de/de/filme/die-leisen-und-die-grossen-toene-154/synopsis#mt
Frankreich 2024
Regie: Emmanuel Courcol
Drehbuch: Emmanuel Courcol, Irène Muscari
Darsteller: Benjamin Lavernhe, Pierre Lottin, Sarah Suco, Jacques Bonnaffé
Kamera: Maxence Lemonnier
Komponist: Michel Petrossian
Länge: 104 Minuten
Verleih: Neue Visionen
Start: 26. Dezember 2024
FILMKRITIK:
Vor vielen Jahren gab es eine französische Komödie, die so gut und so originell war, dass die Erinnerung daran einfach nicht verschwinden will: „Das Leben ist ein langer, ruhiger Fluss“ von 1988. Und obwohl dieser Film über weite Strecken eher laut, lustig und chaotisch war, gibt es doch einige Ähnlichkeiten mit Emmanuel Courcols neuem Film, in dem es in jeder Beziehung deutlich gesitteter zugeht. Das zentrale Thema ist in beiden Filmen beinahe gleich: Welchen Einfluss hat das soziale Umfeld auf die Entwicklung von Kindern? 1988 ging es um zwei Babys aus unterschiedlichen sozialen Schichten, die nach der Geburt vertauscht wurden und auf diese Weise in der „falschen“ Familie aufwuchsen. Bei Courcol geht es um zwei Brüder, die als Kleinkinder getrennt wurden. Thibaut wurde schon als Kind musikalisch gefördert, seine Karriere in der Welt der Klassik war vorgezeichnet, während Jimmy eher per Zufall und ohne jede Unterstützung durch seine Pflegeeltern zur Musik kam und kaum etwas daraus gemacht hat. Der Twist: Erst als Thibaut an Leukämie erkrankt und dringend eine Knochenmarkspende benötigt, kommt raus, dass er adoptiert wurde und er noch einen Bruder hat, der ihm das Leben retten könnte.
Aber wer jetzt denkt, dass dies der Einstieg in eine fröhliche Lebensrettungskomödie wird, ist auf dem vollkommen falschen Dampfer. Auch wenn das erste Treffen der beiden Brüder sehr komisch ist, weil hier zwei verschiedene Welten aufeinanderprallen – der rustikale Kerl aus der nordfranzösischen Provinz und der Mann von Welt mit seinem merkwürdigen Anliegen: Die Handlung macht hier einen coolen Schlenker, und es wird nicht der einzige sein. Immer dann, wenn man sicher ist, jetzt die endgültige Richtung gefunden zu haben, schlenkert es von Neuem. Dabei hält Courcol immer die Balance. Er vermeidet nicht nur die klischeehafte Verbrüderung, sondern auch das eindeutige Sozialdrama, das Krankheitsmelodram oder die musikalische Wettbewerbskomödie – all das taucht in Ansätzen auf, wird aber immer wieder aufs Hübscheste gebrochen. Der Film hat viele Wohlfühlmomente, ist aber dennoch kein Kuschelkino, er bleibt witzig und unpathetisch, und wenn sich die beiden Brüder immer mehr annähern, dominieren die leisen Töne – auch wenn hin und wieder Posaunenklänge durch den Film wehen. Natürlich gibt es auch viel Musik, von Klassik bis Chanson, von Rock bis Pop, wobei der Geschmack der Brüder beinahe so unterschiedlich ist wie ihre Sozialisation. Doch je mehr sich Thibaut und Jimmy kennenlernen, desto mehr Anteil nehmen sie am Leben des anderen.
Tatsächlich haben sie gleichzeitig viel und wenig gemeinsam, weil oder obwohl sie in verschiedenen Welten aufgewachsen sind: Thibaut (Benjamin Lavernhe) ist ein feinsinniger Künstler und versprüht nicht nur die Lässigkeit eines Mannes, der im Reichtum aufgewachsen ist, sondern auch viel melancholischen Charme. Und Benjamin Lavernhe, der von Film zu Film immer noch besser wird, spielt das mit sensiblem, leisem Humor. Jimmy (Pierre Lottin, „Der Triumph“) ist dagegen ruppig und skeptisch, vielleicht fürchtet er sich auch ein wenig vor seinen eigenen Emotionen. Aber er ist alles andere als ein klischeehafter Provinzler, sondern ein Kerl, der mitten im Leben steht und sich für alles Mögliche engagiert – auch gegen die Schließung der örtlichen Fabrik. Doch bei allen Unterschieden ist die Liebe zur Musik Jimmys und Thibauts größte Gemeinsamkeit.
Gaby Sikorski