Die Linie

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Die unter unkontrollierten Wutausbrüchen leidende Margaret ist mit einer dreimonatigen Einstweiligen Verfügung belegt worden, weil sie ihre Mutter schwer verletzt hat. Doch die 100 Meter, die sie nun vom Haus der Mutter trennen, verstärken nur noch ihre Sehnsucht, bei der Familie zu sein. „Die Linie“ seziert das gestörte Verhältnis einer gleichgültigen, egomanischen Mutter zu ihren Töchtern. Ein Film über das Verlangen nach mütterlicher Liebe und stabilen zwischenmenschlichen Beziehungen. Ebenso besonnen wie einfühlsam inszeniert und mit einem durchweg überzeugenden weiblichen Cast.

Webseite: https://www.piffl-medien.de/

Schweiz, Frankreich, Belgien 2022
Regie: Ursula Meier
Drehbuch: Ursula Meier, Stéphanie Blanchoud
Darsteller: Stéphanie Blanchoud, Valeria Bruni Tedeschi, Elli Spagnolo, India Hair

Länge: 103 Minuten
Kinostart: 16. März 2023
Verleih: Piffl Medien

FILMKRITIK:

Die 35-jährige Musikerin Margaret (Stéphanie Blanchoud) ist in der Vergangenheit häufiger durch Gewalttätigkeit aufgefallen. Auch Liebesbeziehungen gingen deshalb in die Brüche. Eines Tages greift sie ihre Mutter, die 55-jährige Christina (Valeria Tedeschi), während eines eskalierenden Streits an. Die Polizei muss anrücken, Margaret wird verhaftet. Die Folge des Streits: ein Hörschaden bei Christina. Für die Solo-Pianistin eine Katastrophe. Es wird entschieden, dass sich Margaret dem Haus ihrer Familie nicht mehr als 100 Meter nähern darf – und das für drei Monate. Doch das hält sie nicht davon ab, die Nähe ihrer Familie zu suchen. Sie will sich für vergangene Fehler entschuldigen und sehnt eine Aussöhnung herbei.

„Die Linie“ ist eine filmische Charakterstudie über eine Familie, die von dysfunktionalen Beziehungen durchzogen ist. Im Zentrum steht das komplizierte, angespannte Miteinander zwischen Margaret und Christina. Margaret hat ihr Leben lang um die Anerkennung und Liebe der Mutter gekämpft, doch gelang es ihr nie, zur stets passiven, wenig empathischen Christina durchzudringen. Ihre kleine Schwester, die 12-jährige Marion (hingebungsvoll und entrückt: Elli Spagnolo), zieht eines Tages eine blaue Linie um das Grundstück der Familie – jene Grenze, die Margaret fortan nicht mehr überschreiten darf. Was die labile Frau nicht abhält, diese Demarkationslinie dennoch immer wieder aufzusuchen.

Stellvertretend steht diese Linie für jene Barriere, die Margaret immer schon zwischen sich und ihrer Mutter vernahm. Eine passende metaphorische Entsprechung, die die Französisch-Schweizerische Filmemacherin Ursula Maier hier findet und die letztlich den Film wie ein roter Faden durchzieht. Denn in den folgenden gut achtzig Minuten, mit Beginn der „Grenzziehung“, spielen sich viele Szenen im Freien und in unmittelbarer Nähe der titelgebenden Linie ab. Wie verbissen Hauptdarstellerin Stéphanie Blanchoud als Margaret um Akzeptanz und familiäre Nähe kämpft, allen voran zur egoistischen Mutter, ist einnehmend mitanzusehen. Blanchoud verleiht ihrer Figur eine ungemeine psychologische Tiefe und rohe Präsenz.

Wie egozentrisch und ichbezogen die Mutter tatsächlich ist, zeigt sich exemplarisch in einer besonders bizarren Rede an Heiligabend, in der Christina vor ihrer Familie den Wert und die Bedeutung von Liebe preist. Dass sie damit jedoch mitnichten das familiäre Beisammensein am Weihnachtsabend oder die bedingungslose Liebe zwischen einer Mutter und ihren Kindern meint – das müssen die drei Schwestern (neben Margaret und Marion gibt es noch die mittlere Schwester und frischgebackene Mutter Louise) auf makabre Weise schon bald erfahren. Solche emotional erschütternden Szenen tauchen im Film noch ein ums andere Mal auf, dazu zählt ebenso die in Zeitlupe gefilmte Eröffnungssequenz mit dem eskalierenden Streit.

Maier beweist ein gutes Gespür für das Inszenieren solch mitreißender und emotional gewichtiger Ausbrüche. Ansonsten dominieren in „Die Linie“ allerdings vielmehr die Andeutungen und subtilen Hinweise. Als essentielles, verbindendes Element dient den Figuren im Übrigen die Musik. Für Margaret ist es die Gitarre, für Christina das Klavier und für Marion das Singen. Die Liebe zur Musik: eine der wenigen Gemeinsamkeiten zwischen der Mutter und ihren Töchtern.

 

Björn Schneider