Die obskuren Geschichten eines Zugreisenden

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Die Romanverfilmung „Die obskuren Geschichten eines Zugreisenden“ war in diesem Jahr für vier Goyas nominiert, was die Klasse dieser Mixtur aus schwarzer Komödie und bizarrem Thriller zeigt. Erzählt wird die Geschichte einer Frau, die einen Doktor im Zug kennen lernt. Er beginnt, ihr eine wilde Geschichte zu erzählen, was in Rückblicken, kuriosen Wendungen und einer nicht minder ungewöhnlichen Auflösung mündet. Ein großer Film, der in seiner Erzählweise sicherlich bizarr, aber auch höchst faszinierend ist. „Die obskuren Geschichten eines Zugreisenden“ ist filmische Ekstase.

Website: www.neuevisionen.de

OT: Ventajas de viajar en tren
Spanien / Frankreich 2019
Regie: Aritz Moreno
Buch: Javier Gullón
Darsteller: Luis Tosar, Pilar Castro, Ernesto Alterio, Quim Gutiérrez
Länge: 103 Minuten
Verleih: Neue Visionen
Kinostart: 20. August 2020

FILMKRITIK:

Die Verlegerin Helga Pato sitzt im Zug, nachdem sie ihren Mann in der Psychiatrie abgeliefert hat. Im Zug lernt sie Dr. Sanagustin kennen, der ihr, um die Langeweile zu bekämpfen, von seinem Berufsleben erzählt, insbesondere von einem Fall, wie er ungewöhnlicher nicht sein könnte. Die Geschichte eines Mannes, der beim Militär war, der nur noch einen Arm hatte, der mit dem puren Bösen in Kontakt kam, der einer Psychose erlegen ist. Ist es wahr, was er erzählte, oder alles nur bestens aufeinander abgestimmte Spinnerei? Helga Pato könnte das egal sein, aber sie wird in diese Geschichte hineingezogen, ist sie selbst doch gerade erst dem Wahnsinn entkommen. Fasziniert ist sie aber auf jeden Fall und möchte mehr wissen, nachdem der gute Doktor verschwindet.

„Die obskuren Geschichten eines Zugreisenden“ ist in drei Kapitel unterteilt. Aber das ist nur Teil des Korsetts, das mit Erzählungen, die in Erzählungen münden, strukturell immer weiter aufgezogen wird. Das Schreiben des Drehbuchs muss, ebenso wie das Schreiben des Romans, ausgesprochen schwierig gewesen sein. Die Gefahr, sich in den eigenen Wendungen zu verlieren, besteht immer. Aber Regisseur Artiz Moreno stolpert nie darüber. Er erzählt seine Geschichte mit sicherer Hand.

Der Film spielt mit dem, was wahr ist, und dem, was wahr sein könnte. Oder anders gesagt: Jeder Film erzählt eine Lüge. Als Zuschauer bedarf es der willentlichen Aussetzung der Ungläubigkeit, wenn man sich auf eine Geschichte einlässt – hier noch mehr als bei vielen anderen Produktionen. Weil die Struktur des Films so elegant ist und wie eine Matroschka-Puppe immer wieder neue Figuren enthüllt, die gleich und doch irgendwie anders sind. Das Unterteilen des Films in Kapiteln ist ein willkürlicher Akt, weil sie nicht mit Teilen der Geschichte und den darin vorkommenden Figuren enden, sondern einfach weitergehen. Der Übergang ist fließend, alles geht ineinander über. Dabei erzählt der Film von den Obsessionen seiner Figuren, von deren Perversionen – ob nun eingebildet oder real. Er macht das mit einer immensen Raffinesse, der man sich gar nicht entziehen kann.

Die geschliffenen Dialoge, die immer wieder vorkommenden Wendungen der Geschichten, das Abgleiten ins Surreale, das alles sind die Elemente eines großen Films, der in seiner Erzählweise sicherlich bizarr, aber auch höchst faszinierend ist. „Die obskuren Geschichten eines Zugreisenden“ ist filmische Ekstase.

Peter Osteried