Die Reise mit Vater

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Es klingt verrückt, aber 1968 war es für rumänische Besucher der DDR für einen kurzen Moment möglich, trotz eingeschränkter Reisefreiheit nach Westdeutschland zu reisen. Klar, dass manche die Gelegenheit, dort einen Asylantrag zu stellen, nutzten. Der Vater von Regisseurin Anca Miruna Lăzărescu hat diese Situation tatsächlich erlebt, seine Tochter rekapituliert seine damaligen Erfahrungen und Erinnerungen mit nostalgischem Charme und einer Prise Ironie mit einer unterhaltsamen und in ein Roadmovie gepackten Geschichtsstunde.

Webseite: www.movienetfilm.de

Originaltitel: La Drum Cu Tata
Deutschland/Rumänien/Ungarn 2016
Regie: Anca Miruna Lăzărescu
Darsteller: Alex Mărgineanu, Răzvan Enciu, Ovidiu Schumacher, Susanne Bormann, Manuel Klein, Doru Ana, Marcela Nistor, Lutz Blochberger, Ana Ularu
111 Minuten
Verleih: Movienet
Kinostart: 17.11.2016
 

FILMKRITIK:

Man muss sich das mal vorstellen: da fährt eine Familie aus Rumänien in den Urlaub in die Deutsche Demokratische Republik, wird dort aber festgenommen und in ein Lager gesteckt. Hintergrund sind politische Unruhen in der Tschechoslowakei, 1968 in die Geschichte eingegangen als „Prager Frühling“. Weil das rumänische Staatsoberhaupt Nicolae Ceauşescu damals den Einmarsch ostdeutscher Truppen in der CSSR kritisierte, wird die Familie ausgewiesen, kann die Rückkehr in ihre Heimat aufgrund der politischen Situation jedoch nur mittels eines Transitvisums über die Bundesrepublik via Österreich und Jugoslawien antreten. Klar, dass dies eine Einladung zur Einwanderung in die BRD bedeutet.
 
Der Vater von Regisseurin Anca Miruna Lăzărescu hat dies 1968 als 18-Jähriger genau so erlebt, seine Tochter rekapitulierte die Ereignisse nun für ihr Spielfilmdebüt in Form einer Tragikomödie. Herausgekommen ist eine Geschichte, die von der Liebe und der Freiheit handelt, dabei aber auch deutlich macht, wie schwer es sein kann, beides miteinander zu vereinen. Lăzărescu macht aber nicht den Vater, wie man vielleicht meinen könnte, zum Hauptdarsteller. Hierfür gewählt hat sie den jungen Arzt Mihai, der sich nach dem Tod der Mutter um den kranken Vater und den jüngeren Bruder kümmert. Man erfährt nebenbei, dass im rumänischen Radio die Beatles als eine ungarische Rockband gespielt wurden, in einer späteren Szene rechtfertigt der Bruder das Hören von „Strawberry Fields forever“ gegenüber Ostbeamten damit, dass es sich bei diesem Lied doch ganz klar um eine Hymne auf eine kollektive landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft für Erdbeeren handeln würde. Musik spielt immer wieder eine kleine wichtige Nebenrolle im Film, sie bringt Schwung, unterstützt aber auch in den melancholischen Momenten.
 
Anlass der Reise ist ein Besuch in der DDR, wo Mihai den Vater operieren lassen möchte. Die Reisepässe dafür hat er unter Mühen besorgt. Doch statt im OP landet die kleine Reisegruppe aufgrund der Prager Unruhen in einem Touristen-Auffanglager, wo Mihai die Münchner Studentin Ulli (Susanne Bormann) kennenlernt, die einfach mal so zum Kauf der Schriften von Lenin und Marx in den Osten gefahren ist. In ihrer linkspolitisch orientierten Wohngemeinschaft prallen dann sozusagen theoretischer und praxiserprobter (West-)Kommunismus aufeinander. Kurz darauf bekommt Mihai das Angebot, sein Bleiberecht in der BRD durch die Bespitzelung der neuen Freundin und ihrer Mitbewohner abzusichern. Man kann sich denken, in welchen Konflikt ihn das stürzen wird.
 
Anca Miruna Lăzărescu gelingt es, die dramatischen Ereignisse der damaligen Zeit in ihrer politischen wie auch sehr persönlichen Dimension sichtbar zu machen und diese beiden Ebenen auf realistische und ernste, aber auch eine mit Humor versehene Weise zu verzahnen. Über allem steht für sie die Frage, welche Art von Freiheit man wählt. Der Westen zunächst in Gestalt der hübschen Studentin im flotten VW-Käfer erscheint da wie ein märchenhaftes Versprechen, die Kabbeleien in der WG später wirken wie die Karikatur eines alternativen Lebensmodells. Die Brüder entscheiden sich am Ende unterschiedlich – und es wird klar: sie sind die zwei Seelen, die in der Brust des wahren Vaters schlummerten.
 
Thomas Volkmann