In gewisser Weise hat die Geschichte Jonathan Millets Debütfilm „Der Schattenjäger“ überholt, denn der syrische Diktator Baschar al-Assad wurde entmachtet. Doch die Qualitäten des Dramas liegen nicht in seiner Aktualität, sondern in seiner Universalität, mit der zeitlose Fragen über Rache, Sühne und dem Versuch, nach grausamen Erlebnissen wieder ein normales Leben zu führen verhandelt werden.
Les Fantômes
Frankreich/ Deutschland/ Belgien 2024
Regie: Jonathan Millet
Buch: Jonathan Millet & Florence Rochat
Darsteller: Adam Bessa, Tawfeek Barhom, Julia Franz Richter, Hala Rajab. Shafiqa El Till, Sylvain Samson
Länge: 108 Minuten
Verleih: Immer Gute Filme
Kinostart: 6. Februar 2025
Für die allermeisten Beobachter völlig überraschend begann Ende November 2024 ein kurzer Sturm, der das seit über 50 Jahren regierende Regime der Assad-Familie wegfegte und – vielleicht – den Weg in eine bessere Zukunft für das von Diktatur und Bürgerkrieg gebeutelte Syrien weist. Eine Frage, die sich in den nächsten Monaten und Jahren stellen wird, lautet: Wie mit den Tätern umgehen, nicht den Mitläufern, aber den Folterknechten, die in den Gefängnissen agierten und im Laufe der Jahre Tausende oder mehr ermordeten und verkrüppelten, körperlich, aber auch seelisch.
Diese Frage steht auch im Mittelpunkt von Jonathan Millets „Die Schattenjäger“, der im Mai bei den Filmfestspielen in Cannes seine Premiere feierte und nun besondere Relevanz erhält. Im Mittelpunkt steht Hamid (Adam Bessa), ein Syrer, der an der Universität Literatur unterrichtete, bevor er in die Fänge des Regimes geriet, gefoltert und in der Wüste ausgesetzt wurde. Doch wider Erwarten überlebte Hamid und schloss sich einer klandestinen Gruppe an, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, syrische Täter zu jagen, die sich, oft getarnt als Flüchtlinge und Asylsuchende, in Europa verstecken.
Aktuelles Ziel ist der Mann, der auch Hamid im berühmt-berüchtigten Saidnaya-Gefängnis gefoltert hat. Das Problem: Hamid hat seinen Peiniger nie zu Gesicht bekommen, stets hatte er eine Kapuze über dem Kopf, konnte seinen Folterer nur hören und riechen. Dennoch glaubt er, ihn in Sami Hamma (Tawfeek Barhom) wiederzuerkennen, einem Studenten in Straßburg. Immer besessener wird Hamid von der Überzeugung, seinen Peiniger entdeckt zu haben, doch die anderen Mitglieder der Gruppe sind vorsichtig. Einen Fehler können sie sich nicht leisten, zumal sich ihre Arbeit oft gefährlich nahe an der Selbstjustiz bewegt.
Unweigerlich muss man angesichts des Themas an den Nazi-Jäger Simon Wiesenthal denken, der nur knapp den Holocaust überlebte und den Rest seines Lebens dem Aufspüren von Tätern widmete. Bewunderung bekam Wiesenthal zwar meist, bisweilen aber auch Kritik an seiner Arbeit, die letztendlich auf problematische Weise das Recht in die eigenen Hände nahm.
In der fiktiven Figur des Hamid wird die Problematik noch frappierender, denn Hamid jagt nicht irgendwelche Täter, sondern genau den Mann, der ihn einst selbst monatelang aufs schwerste folterte, wovon die Spuren auf seinem Rücken zeugen, vor allem aber die Spuren auf seiner Seele.
Auch wenn „Die Schattenjäger“ wie ein Thriller beginnt, man sich durchaus eine plakativere Version der Geschichte vorstellen könnte, in der Hamid und seine Mitstreiter ohne Skrupel tatsächlich oder mutmaßliche Täter fassen und vielleicht sogar töten, entscheidet sich Jonathan Millet – zum Glück – für einen anderen Schwerpunkt. Immer stärker werden die psychischen Folgen angedeutet, die Hamid nicht nur durch die erlittene Folter mit sich trägt, sondern vor allem auch dadurch, dass er sein Leben komplett auf den Wunsch nach Rache ausgelegt hat. Wenn er etwa die Syrerin Yara (Hala Rajab) trifft, die ihm anfangs misstraut, ihm dann Hinweise gibt und schließlich sogar mit ihm flirtet, wirkt Hamid völlig überrascht, um nicht zu sagen überfordert von der Möglichkeit, eine Beziehung zu einer Person aufzubauen, die von Nähe und Wärme geprägt ist.
Auch Rache, vielleicht sogar der Tod seines Peinigers, würde das Leid nicht rückgängig machen, zu dieser Erkenntnis gelangt Hamid nur langsam, der Weg dahin lässt aus dem anfänglichen Polit-Thriller eine tragische Erzählung werden, die am Ende weit über den Syrien-Konflikt hinausweist.
Michael Meyns