Die Schüler der Madame Anne

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Im Herbst 2005 verwiesen die Aufstände in den Pariser Banlieues unter anderem auf die frappierend ungleichen Bildungschancen in Frankreich. In einem dieser trostlosen Vororte ist die Handlung von „Die Schüler der Madame Anne“ der französischen Regisseurin Marie-Castille Mention-Schaar angesiedelt. Als eingängige Version des Sozialdramas „Die Klasse“, das 2008 die Goldene Palme von Cannes gewann, begegnet die pointiert erzählte Milieustudie der Bildungsmisere mit einer entwaffnend hoffnungsvollen Erfolgsgeschichte, die auf einer wahren Begebenheit beruht. Und setzt sehr bewegend allen engagierten Lehrern und Lehrerinnen ein grandioses Denkmal und zeigt, wieviel Anteilnahme und Engagement wirklich bewegen kann!

Webseite: www.madameanne.de

OT: Les héritiers
Frankreich 2014
Regie: Marie-Castille Mention-Schaar
Darsteller: Ariane Ascaride, Ahmed Dramé, Noémie Merlant, Geneviève Mnich, Aïmen Derriachi, Mohamed Seddiki
Länge: 105 Min.
Verleih: Neue Visionen
Kinostart: 5.11.2015
 

Presssestimmen:

"Ein Film der Spaß macht, unter die Haut geht und eine glatte Eins verdient. ...Es gibt tolle Lehrer..."
ZDF Heute Journal (Mediathek-Beitrag)

FILMKRITIK:

In der 11. Klasse des Léon-Blum-Gymnasiums stehen Ohrfeigen, Frotzeleien und Zwischenrufe an der Tagesordnung. Den meisten Schülern ist sowieso alles egal, denn als Kinder des sozialen Brennpunkts Créteil am Stadtrand von Paris verfügen sie nicht gerade über rosige Zukunftsaussichten. Die meisten der Pennäler um den muslimischen Malik (Ahmed Dramé), den schüchternen Théo (Adrien Hurdubae) und die streitsüchtige Mélanie (Noémie Merlant) können sich ohnehin nur noch vage Chancen auf das Abiturzeugnis ausrechnen. Die neue Klassenlehrerin Anne Gueguen (Ariane Ascaride) dringt im Gegensatz zum Kollegium zu den Jungen und Mädchen durch. Den Einwänden des Schulleiters zum Trotz meldet sie die Problemklasse bei einem nationalen Schulwettbewerb an. Eine freiwillige Projektarbeit soll an das Schicksal von jüdischen Kindern und Jugendlichen in den Konzentrationslagern der Nationalsozialisten erinnern.
 
Nach „Meine erste Liebe“ (2012) und „Willkommen in der Bretagne“ (2013) ist „Die Schüler der Madame Anne“ der dritte und bislang reifste Spielfilm von Marie-Castille Mention-Schaar. Das kompakte Drehbuch verfasste die französische Regisseurin mit dem doppelten Doppelnamen gemeinsam mit Ahmed Dramé, der die wahre Geschichte als einer der Schüler am eigenen Leib miterlebte und das Filmprojekt überhaupt erst anleierte. Der filmische Wiedergänger von Dramé ist der besonnene Malik, der bezeichnenderweise ein starkes Interesse für das Kino hegt. 
 
Der schlichtere Originaltitel „Les héritiers“ (zu deutsch: die Erben) verweist bereits auf das Thema der historischen Erinnerungskultur. Zunächst können die Schüler nicht allzu viel mit der Vergangenheit anfangen. Doch Klassiker der Holocaust-Aufarbeitung wie etwa „Das Tagebuch der Anne Frank“, der Besuch einer Gedenkstätte oder eine simple Bildersuche im Internet bringen den Jugendlichen die Thematik immer näher. Den Höhepunkt der Recherchen markiert der Besuch eines zum Zeitpunkt seiner Deportation 15-jährigen Zeitzeugen, der die Schüler mit seiner eindrücklichen Schilderung sichtlich bewegt. So finden die Jugendlichen peu à peu eine eigene Perspektive auf das historische Grauen, lernen quasi nebenbei, als Gruppe zusammen zu arbeiten, und schöpfen ein gehöriges Maß Selbstvertrauen.
 
Die ruhig geführte, aber agile Handkamera vermittelt die soziale Dynamik im Klassenzimmer in dokumentarisch wirkenden Bildern, wobei die absolut glaubwürdigen Darstellungen aller Beteiligten den Einblick in die Lebenswelt  akzentuieren. Durch dieses Erzählen auf Augenhöhe umschifft Mention-Schaar den durchaus nahe liegenden didaktischen Zeigefinger. Betroffenheitskitsch bleibt selbst dann aus, wenn die sparsam eingesetzte Klaviermusik einige rührende Plot Points oder das etwas zu pathetische Finale begleitet.
 
Seine mitreißende Wirkung verdankt das Milieudrama auch dem flotten Erzählrhythmus, der wie aus einem Guss wirkt und sich nirgendwo länger aufhält als nötig. Wunderbar pointierte Szenen umreißen nicht nur die jeweilige Stimmungslage im Klassenzimmer, sondern auch die familiären Hintergründe einiger Schüler. So begreift man zum Beispiel binnen einer Szene, dass Mélanies Mutter an der Flasche hängt und der alltägliche Rassismus im Hausflur oder öffentlichen Busverkehr für den dunkelhäutigen Malik nichts Besonderes darstellt.
 
Die unterschiedlichen religiösen Ansichten der Schüler und die damit verbundenen Ressentiments schwingen in etlichen Szenen mit. Eine thematisch zentrale Nebenhandlung dreht sich um den störrischen Olivier (Mohamed Seddiki), der zum Islam konvertiert und sich fortan mit einem fanatischen Unterton und einer dezent antisemitischen Gesinnung Brahim nennt. Über kurz oder lang verlässt er den Projektkurs, was wohl auch der wachsenden Empathie seiner Klassenkameraden für das Schicksal der jüdischen Holocaust-Opfer geschuldet ist. Am Ende verabschiedet sich Brahim indes mit einer freundschaftlichen Geste aus dem Film – und auch hier genügt der Regisseurin ein beiläufiger Kameraschwenk aus einem fahrenden Bus heraus.
 
Christian Horn