Die Summe meiner einzelnen Teile

Zum Vergrößern klicken

Die „fetten Jahre“ waren für Hans Weingartner zwar schon anno 2004 vorbei, doch nun sind sie es mehr denn je. In seinem neuen (Psycho-)Drama erzählt der Regie-Rebell von einem erfolgreichen Mathematiker, der dem Leistungsdruck nicht mehr gewachsen ist. Mit einer Hütte im Wald möchte er seine klitzekleine Utopie eines besseren Lebens verwirklichen – doch die Staatsmacht lässt nicht lange auf sich warten. Einmal mehr setzt sich Weingartner rigoros mit den Widrigkeiten einer unmenschlichen (Leistungs-)Gesellschaft auseinander. Erneut interessiert ihn das schillernde Verhältnis von Wahnsinn und Normalität. In Zeiten großer Burn Out-Debatten auf den Titelseiten allemal kein ausgebranntes Thema. Der Film dürfte auf reichlich Resonanz bei Presse und Publikum stoßen – zumal in Sachen Kultstatus die fetten Jahre für Weingartner noch längst nicht vorbei sind.

Webseite: www.wildbunch-germany.de

Deutschland 2011
Regie und Drehbuch: Hans Weingartner
Ko-Regie & Ko-Autor: Cüneyt Kaya
Darsteller: Peter Schneider, Timur Massold, Henrike von Kuick, Andreas Leupold, Jutta Jentsch
Kinostart: 2.2.2012
Verleih: Wild Bunch Germany GmbH; Vermietung: Central Film Verleih GmbH

PRESSESTIMMEN:

...

FILMKRITIK:

Mit „Das weiße Rauschen“ hat er sein überaus eindrucksvolles Debüt vorgelegt. Mit „Die fetten Jahre sind vorbei“ gelang Hans Weingartner danach 2004 in Cannes der große Coup – der alsbald zum gefeierten Kultfilm avancierte. Von goldenen Zeiten ist auch sieben Jahre später nichts zu spüren, ganz im Gegenteil. In seinem neuen Drama erzählt der Regie-Rebell die Geschichte des erfolgreichen Mathematikers Martin Blunt (Peter Schneider), der dem Leistungsdruck nicht mehr gewachsen ist, in der Psychiatrie landet und danach Freundin und gutdotierten Job verliert. Wer nicht funktioniert wird aussortiert. Wer nicht passt, wird passend gemacht – oder landet ganz schnell ganz unten. Der Arbeitslosigkeit folgt der Absturz in Alkohol und Obdachlosigkeit. Erst in dem ukrainischen Straßenkind Victor findet der Held der traurigen Gestalt einen Verbündeten. Die beiden bauen eine Hütte im Wald und träumen von einem besseren Leben ohne Zwänge. Auch die Zahnarzthelferin, der das ungleiche Duo einen weggeworfenen Liebesbrief hinterträgt, lässt sich spontan von der Utopie des selbstbestimmten Daseins begeistern – vor dem Aussteiger-Happy End im sonnigen Portugal erfolgt allerdings der erbarmungslose Zugriff der Staatsmacht.

Hans Weingartner ist gewissermaßen der Anti-Schweiger des deutschen Kinos im doppelten Sinn. Zum einen macht er das Gegenteil von gefälligem „Keinohrhasen“-Kuschelkomödien. Zum anderen schweigt er nicht über gesellschaftliche Missstände, wie beim „Weißen Rauschen“ geht es erneut um psychisch fragile Figuren und ihren Kampf gegen die Windmühlen des Systems – nicht umsonst verweist der Name des „ver-rückten“ Helden auf „Blunt, oder der Gast“, das erste deutsche Schicksalsdrama überhaupt, das Carl Moritz anno 1781 veröffentlichte. Damit nicht genug der Anspielungen, auch der neue Titel (der die ursprüngliche „Hütte im Wald“ ersetzt), ist eine hübsche Verbeugung vor dem guten alten Aristoteles, für den „das Ganze mehr als die Summe seiner Teile“ war. Solche Referenzen sind freilich nur die Sahnehäubchen einer Story, die auch ganz schlicht und einfach funktioniert und bewegt. Neben dem gelungenen visuellen Konzept gebührt ein entscheidender Anteil daran dem Hauptdarsteller Peter Schneider, der den sensiblen Außenseiter mit überzeugender Glaubwürdigkeit und Charisma ausstattet – wie einst mit dem unbekannten Daniel Brühl ist dem Regisseur mit dieser Entdeckung ein bemerkenswerter Talent-Coup gelungen. Zynische Zeitgenossen mögen das ambitionierte Werk routinemäßig als Gutmenschenkino abtun. Als zu plakativ und botschaftsträchtig. Beim geneigten Publikum dürfte freilich auch dieser Weingartner wieder einen Nerv der Zeit treffen. Umso mehr, als dieses packende Psychodrama auf naheliegende Gefühlsduseleien konsequent verzichtet und lieber auf Wahrhaftigkeit setzt. Mutiges Kino mit allerhand Nachhaltigkeitsfaktor.

Dieter Oßwald

Martin Blunt ist Mathematiker. Zahlen sind das allgemeine und persönliche Existenzgebäude, das ihn – und die Welt – aufrecht erhält. Er hat in einer Spitzenfirma einen Spitzenjob. Bis das Zahlengebäude und auch er selbst zusammenbrechen. Burn out. Martin kommt in die Psychiatrie.

Als er nach sechs Monaten entlassen wird, ist seine Stelle verloren. Die Geschäftsführer der Firma zweifeln an seiner Belastbarkeit. Er ist fast mittellos. Vom Amt bekommt er eine billige kleine Wohnung zugewiesen. Vorübergehend, wie er meint. Seine frühere Freundin hat sich von ihm getrennt, lebt längst mit einem anderen Kerl zusammen. Martin kann lediglich noch seine Sachen abholen.

Der Schlag ist zu hart. Martin Blunt fängt an zu trinken. Als dann noch der Gerichtsvollzieher erscheint und seine wenigen Sachen gepfändet werden, wirft es den Mann völlig aus der Bahn. In einem alten Abbruchhaus findet er Unterschlupf. Der Alkohol scheint nun sein Hauptnahrungsmittel zu sein.

Von lautem Geschrei wird er aufgeweckt. Einige brutale Jugendliche quälen den zehnjährigen ukrainischen Buben Victor, der nur russisch spricht. Martin greift ein. Von jetzt an sind die beiden Freunde. Sie sammeln leere Pfandflaschen und beschaffen sich so das Nötigste. Dann versuchen sie, bei Martins Vater unterzukommen, der einen kleinen Bauernhof betreibt. Doch der alarmiert die psychiatrische Klinik. Die beiden fliehen.

Von nun an leben sie im Wald, bauen sich eine Hütte, „organisieren“ sich, was sie brauchen – und leben in Freiheit. Martin findet in einer Mülltonne einen Liebesbrief. Er gehört Lena und stammt von deren Freund aus Portugal. Da der Brief die Adresse enthält, bringt Martin Lena den Brief. Es stellt sich heraus, dass auch Lena unter den Zwängen eines festgelegten, von ihr keineswegs geschätzten Daseins leben muss. Könnten Martin, Victor und Lena nicht nach Portugal reisen und dort ein neues, freies Leben beginnen?

Aber so einfach spielt sich das Schicksal nicht ab.

Autor und Regisseur Weingartner geht es den eigenen Aussagen nach um das Verhältnis zwischen den abstrakten und theoretischen, angeblich die Welt ordnenden Zahlenwerten einerseits („digitaler Käfig des Menschenzoos“) und der die Menschen umgebenden sowie beeinflussenden Realität andererseits; weiter um das Aufzeigen der psychischen Labilität und der damit verbundenen Ängste und Depressionen; um den Ausbruch aus einer zu starken Selbstbezogenheit, und zwar durch eine emotionale Bindung (wie im Falle der Freundschaft zwischen Martin und Victor); um die Freiheit, die der verstoßene Martin an einem Ort wie dem Wald findet („zieh dich selbst aus dem Sumpf!“); oder darum, dass er einer jungen Frau wie Lena dazu verhilft, ihr numerisch gesteuertes Leben zu verlassen und ins richtige einzusteigen.

Kein leichter Film. Einer mit psychologischen (und psychiatrischen) Denkaufgaben. Weingartner bietet Ansätze, Lösungen zu bieten hat er nicht die Absicht. „Reale Figuren, Emotionen und Lebensumstände werden entkernt und fokussiert“, sagt er. Einfache Naturbilder betten all das ein.

Auf eines jedoch ist neben der routinierten Regiearbeit unbedingt noch hinzuweisen: Peter Schneider spielt diesen Martin Blunt sehr, sehr beeindruckend.

Thomas Engel