Die toten Vögel sind oben

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In ihrer Doku „Die toten Vögel sind oben“ befasst sich Regisseurin Sönje Storm mit dem beeindruckenden Nachlass ihres Urgroßvaters, Jürgen Friedrich Mahrt. Dieser begab sich von der Front direkt in die Natur: Im Ersten Weltkrieg als Luftaufklärer an der Westfront tätig, beobachtete und dokumentierte Mahrt nach seiner Rückkehr die Natur und Tierwelt. Mit seinen Erkenntnissen über die Fragilität von Ökosystemen und den Zusammenhang zwischen landschaftlich-klimatischer Veränderung und der Artenvielfalt war er seiner Zeit weit voraus. Ein erhellender, informativer Film über einen beachtenswerten Menschen, souverän und filmisch detailliert umgesetzt.

Deutschland 2022
Regie & Buch: Sönje Storm

Länge: 83 Minuten
Verleih: Real Fiction
Kinostart: 31. August 2023

FILMKRITIK:

Jürgen Friedrich Mahrt war eigentlich Landwirt, doch sein Interesse galt der Natur und der Fotografie. Sofort nach seinem Kriegsdienst in der Kaiserlichen Armee stürzte er sich mit seiner Kamera ins Grün seiner Heimatregion. Die naturkundlichen Hinterlassenschaften des Mannes, der sogar ein kleines Naturkundemuseum in Schleswig-Holstein eröffnete, ist beachtlich: 350 ausgestopfte Vögel, 3000 Schmetterlinge, hinzu kommen etliche Pilze und Käfer. Regisseurin Storm möchte verstehen, was ihren Urgroßvater antrieb. Was motivierte Mahrt? Woher kamen seine Sammelleidenschaft und die fast obsessive Passion für Naturkunde sowie die Tier- und Landschaftsfotografie?
In „Die toten Vögel sind oben“ vermengt Storm zweierlei: Einerseits die spannende Lebensgeschichte von Jürgen Friedrich Mahrt. Eines Mannes, über dessen Charakter und Persönlichkeit nicht viel bekannt ist. In detektivischer Kleinarbeit muss sich die Regisseurin in der Folge an dieses Thema herantasten und -arbeiten. Hinzu kommt der zweite thematische und deutlichere Schwerpunkt dieser akribisch umgesetzten, außergewöhnlichen Doku: die Hinterlassenschaften von Mahrt und deren naturhistorischer Wert.
Deren Bedeutung zeigt sich bereits in den einführenden Minuten, in welchen erste fotografische Arbeiten Mahrts zu sehen sind. Auf nachträglich kolorierten Bildern sehen wir seltene, heute zum Teil ausgestorbene Tiere, zumeist Vögel, hinzu kommen Naturlandschaften, Lichtungen und Bäume in Elsdorf. Zwischendurch auch mal einige Bewohner jener abgeschieden gelegenen Gemeinde in Schleswig-Holstein. Mahrts Heimat, etwa 45 Kilometer von Kiel entfernt.
Spannend wird es, als zwei Wissenschaftler die in Vergessenheit geratenen alten Fotos (die meisten aus den Jahren 1919 bis 1930), die vielen Tierpräparate und die Schmetterlingskästen auf dem Dachboden des ehemaligen Museums begutachten. Verstaubt, in die Jahre gekommen und zum Teil vom Sonnenlicht ausgeblichen haben die Jahrzehnte auf dem Dachboden überdeutlich ihre Spuren an der wertvollen Sammlung hinterlassen – aber die meisten Objekte sind gut erhalten und vor allem für Wissenschaftler ein wahrer Schatz. Diesen blickt Storm im weiteren Verlauf bei ihrer Arbeit mit und an den Gegenständen ausgiebig über die Schulter: Insektenkundlern, Ornithologen, Tierpräparatoren und wissenschaftlichen Mitarbeitern am Hamburger Kunst- und Gewerbemuseum und dem Zoologischen Museum in Hamburg.
Man fühlt sich an einen Twist in einem Thriller oder Horrorfilm erinnert, als man später erfährt, dass viele Tiere auf den Bildern Tierpräparate sind – in die Natur gesetzt und sorgsam im Einklang mit der Umgebung arrangiert. Zu diesem Zeitpunkt weiß der Betrachter noch nicht allzu viel über die Lebensgeschichte und den inneren Antrieb Mahrts. Doch das ändert sich dank Storms faszinierender Detail- und Aufklärungsarbeit. So erfährt man, wie Mahrt seine Kenntnisse vertiefte und was er sich an (Spezial-)Wissen und Expertise selbst beibrachte – vom Fotografieren mit eigens gefertigtem Selbstauslöser über das Ausstopfen toter Tiere bis hin zur Foto-Kolorierung.
Und: Ausgewählte Auszüge aus Mahrts Tagebüchern gewähren zumindest in Ansätzen einen Einblick in das Wesen dieses besonderen Mannes. Soweit dies möglich ist, denn allzu viel Persönliches gab er in seinen Niederschriften nicht Preis. Das bestätigt auch der letzte lebende Zeitzeuge, der Mahrt noch persönlich kannte: Ein zum Zeitpunkt der Dreharbeiten (2019) 91-jähriger Mann, der auf dem Familienhof gearbeitet hat.
Ganz am Ende schlägt der Film den Bogen in die Jetztzeit. Schon Mahrt fielen in seinen Beobachtungen und bei den Naturausflügen die landschaftlichen Veränderungen auf – und mit ihnen die Populations-Rückgänge. Unwissentlich dokumentierte Mahrt so bereits das Verschwinden bestimmter Arten und die Auswirkungen von Klima- und Naturveränderungen auf Flora und Fauna. Ein Problem, das dringlicher und aktueller nicht sein könnte.

Björn Schneider