Die Zeit, die wir teilen

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„Die Zeit, die wir teilen“ zeigt die charismatische Grande Dame des französischen Kinos, Isabelle Huppert, in einem Film über Liebe, Verlust, Fehler der Vergangenheit und die Endlichkeit unseres Daseins. Es geht um eine Frau, die ihr bisheriges Leben und verflossene Liebschaften Revue passieren lässt. Das bisweilen etwas schwerfällig und träge erzählte Liebes-Drama lebt von der bewussten Verschmelzung von Wunsch und Realität, von Fiktion und Fakten. Und einem besonnen sowie anrührend aufspielenden Cast, aus dem Isabelle Huppert als zweifelnde Melancholikerin heraussticht.

Webseite: www.camino-film.com/filme/diezeitdiewirteilen/

À propos de Joan
Frankreich, Irland, Deutschland 2022
Regie: Laurent Larivière
Drehbuch: Laurent Larivière, François Decodts
Darsteller: Isabelle Huppert, Lars Eidinger, Swann Arlaud, Freya Mavor

Länge: 101 Minuten
Kinostart: 31.08.2022
Verleih: Camino

FILMKRITIK:

Joan Verra (Isabelle Huppert) lebt und arbeitet als erfolgreiche Verlegerin in Paris. Überraschend trifft sie eines Tages auf der Straße ihre erste große Liebe wieder. Ein Ereignis, dass sie emotional so sehr aus der Bahn wirft, dass sie sich kurzerhand dazu entscheidet, die französische Hauptstadt zu verlassen. Sie zieht sich in ihr abgeschiedenes Landhaus zurück und wagt einen Rückblick auf ihr Leben mit allen wichtigen Entscheidungen, die sie bislang traf. Mit dabei: der exzentrische, heftigen Stimmungsschwankungen unterworfene Autor Tim (Lars Eidinger) und Joans Sohn Nathan (Swann Arlaund), für den sie seit Jahren alleine die Verantwortung trägt.

Isabelle Huppert nimmt den Zuschauer in ihrer Rolle als selbstbewusste, aber doch von großer unterschwelliger Melancholie geprägte Frau mit auf eine Reise durch ihr Leben. Vor allem in ihr Liebesleben. Regisseur Laurent Larivière wagt einen ebenso selbstsicheren, mutigen Ansatz, wenn er Hupperts Figur immer wieder die vierte Wand durchbrechen und in unmittelbaren Kontakt zum Kinobesucher treten lässt. Etwa gleich zu Beginn, als Joan unvermittelt direkt in die Kamera schaut, sich dem Zuschauer vorstellt und als Erzählerin durch ihr Leben führt.

In verschiedenen Jahrzehnten und Lebenssituationen sehen wir die junge Joan und die Männer (darunter auch ihr Sohn), die ihr Leben geprägt und bereichert haben. Die jeweiligen Rückblenden und Szenen innerhalb der Flashbacks sind nicht alle von gleicher Intensität und Unmittelbarkeit, einige verfügen jedoch über eine beachtliche, ungezwungene Leichtigkeit. Und eine ansteckende, fast pulsierende Energie. Dazu zählen etwa die Momente und Sequenzen, die im Dublin der frühen 70er-Jahre angesiedelt sind.

Dort trifft Joan auf den Gauner Doug (Stanley Townsend), den sie kennen- und bald darauf leidenschaftlich lieben lernt. Verheißungsvoll-unbeschwerte Bilder bestimmen die Szenerie um die famose Freya Mavor, die die junge Joan spielt. Geeint sind alle Passagen und Episoden in der bewussten Verschränkung von Fakt und Fiktion: Nicht immer ist klar, ob Joans Erinnerungen wahr sind oder ob sie nur etwas hinzuerfindet. Weil es sich so besser anfühlt.

„Die Zeit, die wir teilen“ ist darüber hinaus exakt zugeschnitten auf Isabelle Huppert, die die sanfte, zerbrechliche Seite einer Figur schon lange nicht mehr so zur Schau stellen durfte – agiert sie auf der Leinwand sonst doch meist als mysteriöse, distanzierte Frau mit unterkühlter Unnahbarkeit. Apropos zerbrechlich und fragil: Auch Lars Eidinger als Joans Liebhaber präsentiert eine emotionale Tour-de-Force. Er zeigt die physische und affektive Höllenfahrt eines depressiven, hochsensiblen Autors, der die Kernfrage des Films formuliert: „Ich glaube nicht, dass man aus den richtigen Gründen geliebt und gehasst wird.“

Liebe und Hass. Diese zwei widerstreitenden Emotionen empfindet Joan nicht zuletzt für ihre Mutter Madeleine. Überhaupt betrachtet Larivière das Verhältnis zur Mutter und Madeleines Verhaltensweisen dezidiert. Und hier lohnt ein genauer Blick. Denn so sehr der Verlust der Mutter Joan als junge Frau traumatisierte (sie verließ die Familie für einen jüngeren Mann und ging nach Japan), so sehr färbten Madeleines Freigeist, hedonistische Lebensweise und Leidenschaft doch auch auf ihre Tochter ab. All dies arbeitet Larivière mit ungeheurer Sorgfalt und großem Feingefühl heraus.

Insgesamt wählt Larivière eine sehr bedächtige, langsame Erzählweise. Einerseits verleiht dies dem Film mitunter eine gewisse Schwerfälligkeit und phlegmatische Aura. Doch genau diese Langsamkeit und Entschleunigung passt wiederrum zu Joans Entschluss, sich völlig aus dem hektischen Treiben der Großstadt zurückzuziehen und ihr Leben Stück um Stück aufzuarbeiten.

 

Björn Schneider