Divertimento – Ein Orchester für alle

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Was macht ein musikalisches Mädchen aus der Pariser Vorstadt, das als junge Dirigentin chancenlos gegen die Männerwelt antritt? – Sie gründet kurzerhand ihr eigenes Orchester!
Die liebenswerte Geschichte von der schüchternen Zahia, die unbedingt Dirigentin werden möchte, ist ein weiteres gutes Beispiel für einen gelungenen französischen Film nach einer wahren Geschichte, in der es um die Integration und das Selbstverständnis von Menschen mit Migrationshintergrund geht. Als Regisseurin und Co-Autorin fungiert Marie-Castille Mention-Schaar, die unter anderem bereits mit „Die Schüler der Madame Anne“ ihr gutes Händchen für Jugendstoffe beweisen konnte.

Regie: Marie-Castille Mention-Schaar
Drehbuch: Marie-Castille Mention-Schaar und Clara Bourreau
Darsteller: Oulaya Amamra, Lina El Arabi, Niels Arestrup, Zinedine Soualem, Nadia Kaci
Kamera: Naomi Amarger
Musik: Élise Luguern und jede Menge Klassik vom Feinsten!

Länge: 110 Minuten
Verleih: Prokino
Start: 15. Juni 2023

FILMKRITIK:

Die Geschichte nimmt ihren Anfang im Jahr 1985: Die siebenjährige Zahia (Oulaya Amamra) schaut zufällig mit ihren musikbegeisterten Eltern ein klassisches Konzert im Fernseher – Sergiu Celibidache dirigiert den „Bolero“ von Maurice Ravel. Der berühmte Dirigent wird später in Zahias Leben noch eine wichtige Rolle spielen. Aber erstmal hört Zahia überall Musik: den Rhythmus des Straßenlärms, den Sound der Metro. Für sie spielt die Großstadt ihre ganz eigene mal wilde, mal sanfte Melodie. Auch Zahias Zwillingsschwester Fettouma (Lina El Arabi) ist musikalisch – sie spielt Cello, doch Zahia will mehr, sie hat einen ganz außergewöhnlichen und ehrgeizigen Berufswunsch: Sie möchte Dirigentin werden.

Ein paar Jahre später feiert Fettouma als junge Cellistin bereits einen Erfolg nach dem anderen, doch Zahia hat es deutlich schwerer. Am Konservatorium wird sie weder von den Lehrkräften noch von ihren Kolleginnen und Mitstreitern als künftige Orchesterleiterin akzeptiert. Zahia ist im Gegensatz zu ihrer Schwester eher scheu und zurückhaltend, und diese Schüchternheit ist sicherlich ein Teil ihres Problems. Aber auch ihre nordafrikanische Herkunft und ihr sozialer Background machen es ihr schwer, sich zu behaupten – die Familie der Zwillingsschwestern lebt in Pantin, einer multikulturell geprägten Banlieue nordöstlich vom Pariser Stadtzentrum, während praktisch all ihre KommilitonInnen der Oberschicht angehören. Außerdem ist Zahia das einzige Mädchen, das dirigieren will, und wird auch deshalb nicht ernstgenommen, was leider auch für die meisten Mädchen gilt. Zufällig trifft sie bei einem Konzert auf Sergiu Celibidache (verblüffend ähnlich: Niels Arestrup), der überhaupt nichts davon hält, dass nun auch Frauen den Dirigentenstab in die Hand nehmen wollen. Doch Zahia überzeugt ihn mit ihrem Talent und mit ihrem Ehrgeiz, so dass er schließlich über seinen Schatten springt und ihr Unterricht gibt. Doch trotz aller Fortschritte bleibt es für Zahia zweifelhaft, ob und wie sie sich gegen Vorurteile und Intoleranz dauerhaft zur Wehr setzen kann.

Wie Zahia dann doch eine erfolgreiche Dirigentin wird und ihr Leben Kindern und Jugendlichen widmet, die – so wie sie selbst – aus Einwandererfamilien kommen und in eher prekären Verhältnissen aufwachsen, das ist das zentrale Thema dieses Films, in dem es nicht nur um schöne Musik, sondern auch um die Überwindung von Grenzen geht: Zahia muss lernen, sich zu behaupten, wenn sie ihren Traum Wirklichkeit werden lassen möchte. Doch sie muss auch für sich selbst herausfinden, was für sie das Beste ist. Und was macht eine begabte junge Dirigentin aus der Vorstadt, die chancenlos gegen die Männerwelt antritt? – Sie gründet kurzerhand ihr eigenes Orchester.

Marie-Castille Mention-Schaar hat unter anderem schon mit „Die Schüler der Madame Anne“ (2014) als Regisseurin und Drehbuchautorin ihr Händchen für Jugendstoffe bewiesen. Für ihr neues Jugenddrama hält sie sich eng an die Biografien der beiden Protagonistinnen Zahia und Fettouma Ziouani und erzählt ihre Geschichte als realistisches Märchen – weniger als ein Musikfilm. Dennoch webt sie aus klassischen Melodien wunderschöne Klangteppiche, die dem Film viel von seiner angenehmen Atmosphäre geben. Daneben zeigt sie „Divertimento“ als Geschichte zweier Schwestern, die sich gegenseitig unterstützen. Die beiden jungen Hauptdarstellerinnen spielen ihre Rollen sehr engagiert und liebenswert. Lina El Arabi als Fettouma macht das mit viel jugendlichem Charme und Schwung, während Oulaya Amamra die Zahia als stille Einzelgängerin spielt, die so gut andere beobachtet, beinahe, als seien sie Wesen von einem anderen Planeten. Mention-Schaar zeigt ihren Prozess von der scheuen Beobachterin zur Macherin mit viel Sensibilität und handwerklichem Geschick als nachvollziehbare Entwicklung. Dabei macht sie aus Zahia weder eine feministische Heldin noch eine unterprivilegierte Kämpferin, sondern sie stellt sie als begabte und pragmatische junge Frau dar, die vom Musikmachen als gemeinsames Erlebnis für alle und jeden träumt ... und ihr Orchester leitet Zahia bis heute.

 

Gaby Sikorski