Du wirst mich in Erinnerung behalten

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Édouard leidet an Alzheimer. Als Historiker war er es gewohnt, Vorträge vor vielen Menschen zu halten. Nun fühlt er sich gezwungen, seine Worte exakt zu wählen. Er verliert sich zunehmend. Neuen Schwung in sein Leben bringt die Tochter seines Schwiegersohns, die selbst unsicher durch ihr Leben navigiert. Schaffen es beide, ihr Dasein in eine positive Richtung zu lenken? Die kanadische Produktion „Du wirst mich in Erinnerung behalten“ ist mehr als ein Film über Demenz und die Folgen der Krankheit. Die intelligente, hintersinnige Tragikomödie beleuchtet die Bedürfnisse und Ängste verschiedener Generationen und betont die positiven Wirkungen tiefgehender menschlicher Beziehungen.

Kanada 2020
Regie: Eric Tessier
Buch: Eric Tessier
Darsteller: Rémy Girard, France Castel, Julie LeBreton, Karelle Tremblay

Länge: 108 Minuten
Verleih: JETS Filmverleih
Kinostart: 07.12.23

FILMKRITIK:

Édouards (Rémy Girard) Frau Madeleine (France Castel) ist mit der Situation zu Hause zunehmend überfordert und bringt ihren an Alzheimer leidenden Mann zu Tochter Isabelle (Julie Le Breton) und ihrem Mann Patrick. Madeleine will zum ersten Mal in ihrem Leben an sich denken. Kurz darauf lernt Édouard Bérénice (Karelle Tremblay) kennen, Patricks Tochter. Anfänglich tun sich der Pensionär und die junge Frau, die ziellos durch ihren Alltag treibt, schwer miteinander. Doch Bérénice bringt Edouard dazu, ein längst verdrängtes Ereignis zu bearbeiten. Und sie selbst bekommt die Chance, ihrem Leben mehr Bedeutung zu verleihen.

Regisseur Eric Tessier behandelt eine Vielfalt an Inhalten und thematischen Bezügen, die für alle beteiligten und involvierten Generationen etwas bereithält. Ein zentraler, aber längst nicht alleiniger Bestandteil des Films ist die Erkrankung und was sie mit Édouard macht. Je häufiger es zu Gedächtnislücken kommt, desto ungehaltener und frustrierter wird er. Er, ein pensionierter Uni-Dozent, der stets über ein exzellentes Daten-, Fakten- und Zahlengedächtnis verfügte. Doch das Kurzzeitgedächtnis lässt Édouard im Stich.

Rémy Girard fängt die Verwirrung und den Frust über seine Situation sehr gut ein. Auf natürliche und sensible Weise ermöglicht er durch sein forciertes Spiel einen Blick in das Innerste seines Charakters. „Du wirst mich in Erinnerung behalten“ beleuchtet darüber hinaus die Auswirkungen einer solchen Krankheit auf den Alltag der Angehörigen. Tessier gesteht seinen Figuren dabei das Selbstbewusstsein und den Mut zu, auch mal unkonventionelle oder gar gesellschaftlich als „unpopulär“ erachtete Entscheidungen zu treffen. Darunter Madeleines Entschluss, Édouard fürs Erste in die Obhut von Tochter und Schwiegersohn zu geben.

Bei der Betrachtung der unterschiedlichen Generationen und deren Lebensweisen schaut Tessier genau hin und arbeitet akkurat geplatzte Träume, Überforderung in Job und Privatleben sowie verdrängte Erinnerungen heraus. So zum Beispiel bei Isabelle und Patrick. Bérénice (spielstark und charismatisch: Karelle Tremblay) hingegen steht stellvertretend für die Gen Z und hier stellt Tessier beispielhaft Fragen wie: Durch was kann man seinem Leben einen Sinn geben? Wie finde ich eine Aufgabe, die mich erfüllt? Und wie entgehe ich den Gefahren des digitalen Zeitalters: der Oberflächlichkeit und Reizüberflutung von Messenger-Diensten, Hashtags und Social Media.

In einem Interview am Anfang des Films lässt sich Édouard deutlich über jene Medien aus und bezeichnet sie als „Demokratisierung der menschlichen Dummheit“. Ein kleiner Vorgeschmack auf die Meinungsverschiedenheiten und – anfänglichen – Unstimmigkeiten zwischen zwei Personen, die mit Beginn des zweiten Drittels im Mittelpunkt stehen: Édouard und Bérénice. Mit ihnen treffen nicht nur zwei Menschen gänzlich unterschiedlichen Alters aufeinander. Es kollidieren gleichsam differierende Ansichten, Einstellungen und Perspektiven auf die Welt. Herrlich auf den Punkt bringt dies eine Diskussion der Beiden über die heutige Bedeutung berühmter Persönlichkeiten aus Geschichte und Religion.

Tremblay und Rémy Girard verleihen der Beziehung zwischen Édouard und Bérénice eine erstaunliche Tiefe. Auch, weil das Drehbuch ihnen eine Weiterentwicklung und einen Reifeprozess gestattet. Dabei geht es nicht nur trist oder melancholisch zu, denn Tessier lässt viel Raum für humorvolle Zwischentöne und augenzwinkernde Running Gags (Stichwort: Notizbuch). Bérénices Credo lautet: Lebe im Hier und Jetzt. Genieße den Moment. Allein das hat beachtliche Auswirkungen auf Édouard. Gelungen mit der Gegenwartshandlung sind zudem die Rückblenden verwoben, die unter anderem einen Blick zurück in die Anfänge der Beziehung zwischen Édouard und Madeleine gewähren. Oder auf ein tragisches Familienereignis, bei dessen Bearbeitung Bérénice eine bedeutende Rolle zukommt.

 

Björn Schneider