Ein bisschen bleiben wir noch

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Das anrührende, warmherzige Flüchtlingsdrama des aus dem Iran stammenden österreichischen Regisseurs Arash T. Riahi mischt den brutalen Realismus mit einem hoffnungsvoll kindlichen Blick auf die tragische Situation. Seine Geschichte um das tschetschenische Geschwisterpaar Lilli und Oskar, das nach einem Selbstmordversuch ihrer Mutter auseinander gerissen wird und in unterschiedlichen Pflegefamilien landet, besticht zudem durch die höchst beeindruckende Besetzung. Seine beiden jungen Hauptdarsteller, der achtjährige Leopold Pallua und die dreizehnjährige Rosa Zant, verblüffen mit ihrem unglaublich natürlichen Spiel. Gesellschaftlich relevantes Kino, nach der Romanvorlage der preisgekrönten Schriftstellerin Monika Helfer, das ehrlich und ohne Kitsch daherkommt.

Website: www.filmkinotext.de

Österreich: 2019
Regie: Arash T. Riahi
Drehbuch: Arash T. Riahi
Darsteller: Leopold Pallua, Rosa Zant, Ines Miro, Christine Ostermayer, Simone Fuith, Anna Fenderl, Alexandra Maria Nutz, Markus Zettl
Länge: 102 Minuten
Verleih: Film Kino Text, Vertrieb: Die Filmagentinnen
Kinostart: 2.9.2021

FILMKRITIK:

„Kommen wir jetzt ins Flüchtlingsheim?“, fragt der achtjährige Oskar (Leopold Pallua) seine Schwester. Versteckt müssen die beiden vom Dach des Wiener Plattenbaus den Abtransport ihrer Mutter (Ines Miro) mit ansehen. „Glaubst, ist die Mama jetzt tot?“, will Lily (Rosa Zant) verzagt von ihm wissen. Die 13jährige fast noch hilfloser wie ihr kleiner Bruder. Vor sechs Jahren sind die beiden mit ihren Eltern aus Tschetschenien geflohen. Während der Vater bald wieder abgeschoben wurde, verkraftet die Mutter die ständig drohende Abschiebung psychisch nicht.

Verzweifelt versucht sie mit ihrem Selbstmordversuch wenigstens ihre Kinder zu retten. Doch das Geschwisterpaar wird getrennt. Sie kommen in zwei verschiedene Pflegefamilien. Lilli landet bei der alleinstehenden, patenten Ruth (Simone Fuith), die sich mit viel Einsatz das Vertrauen der 13-Jährigen erarbeitet. In der neuen Schule findet sie in der Außenseiterin Betty (Anna Fenderl) eine Freundin. Doch die hat es es auch nicht leicht. Ihre Mutter finanziert sich ihre Drogensucht auf dem Straßenstrich.

Der aufgeweckte Oskar kommt zum bemühten, überkorrekten Lehrerpaar Susanne (Alexandra Maria Nutz) und Georg (Markus Zett). Eigentlich sind die beiden scheinbar strengen Vegetarier schon mit der Pflege der parkinsonkranken Mutter Erika (Christina Ostermayer) samt eigenem kleinem Sohn leicht überfordert ist. Und als der kreative, kleine Rebell das vegetarische Mittagessen mit der Lupe nach dem geliebten Fleisch absucht, sind sie zusätzlich irritiert. Warum kann er nicht Vegetarier sein, der auch Fleisch isst, will er partout wissen.

Denn wer als Vegetarier manchmal ein Stück Bio-Fleisch isst, wird für ihn damit noch lange nicht den Klimawandel zu verantworten haben. Entgegen dem Wunsch ihrer neuen Pflegeeltern und des Amtes halten die Geschwister heimlich Kontakt. Sie machen sich auf die Suche nach ihrer Mutter, die mittlerweile in eine psychiatrische Klinik gebracht wurde. Eine bittersüße Odyssee beginnt. Lillis Blick auf die Welt ist mehr pessimistisch.

Während Oskar ein unverbesserlicher Optimist ist. Er gibt nicht auf. Negatives will er einfach nicht akzeptieren. Seine kindliche Neugier und smarte Neunmalklugheit sorgen für Humor und Leichtigkeit. Streckenweise verwandelt er das Drama zu einem „Kevin – Allein zu Haus“ mit sozialkritischer Note. Kameramann Enzo Brandner schafft dafür poetische Bilder. Manchmal stehen sie auf dem Kopf, wie die Welt von Oskar und Lilli, die aus den Fugen geraten ist.
Es sind nicht zuletzt die magischen Momenten, die das berührende Flüchtlingsdrama so besonders machen: Licht, das durch rotes Bonbonpapier leuchtet, Alltagsobjekte, aus denen plötzlich Gesichter werden, Kaugummireste am Fenster, die wie dicke Tränen scheinen. Gleichzeitig verblüffen die beiden jungen, brillanten Hauptdarsteller, der achtjährige Leopold Pallua und die dreizehnjährige Rosa Zant, mit ihrem unglaublich natürlichen Spiel. Regisseur Arash T. Riahi gelingt so gesellschaftlich-relevantes Kino, das kraftvoll und ohne Kitsch daherkommt. Und am Ende vermittelt der aus dem Iran stammende Wiener mit seinem wunderbar, poetischen Schlussbild, trotz allem Hoffnung.

Luitgard Koch

 


 

In seinem zweiten Film „Ein bisschen bleiben wir noch“ beschäftigt sich der aus Iran stammende, seit langem in Österreich lebende Regisseur Arash T. Riahi erneut mit dem Thema Flucht. Zwei Kinder aus Tschetschenien stehen im Mittelpunkt, die nach einem Suizidversuch der Mutter bei Pflegefamilien untergebracht sind und sich mit Witz und Phantasie in fremder und oft seltsamer Umgebung durchschlagen.

„Integriert euch doch!“ wird Flüchtlingen oft vorgehalten, nicht selten mit einem Unterton der Empörung und des Unverständnisses, warum es denn so schwerfällt, Teil des Lebens im ach so wunderbaren Deutschland oder Österreich zu werden. Der gut sieben Jahre alte Oskar (Leopold Pallua) und seine etwas ältere Schwester Lilli (Rosa Zent) leben seit sechs Jahren in Österreich. Meistens zusammen mit ihrer Mutter, die jedoch durch die Kriegserlebnisse in ihrer Heimat Tschetschenien schwer traumatisiert ist.

Dennoch hängt das Damoklesschwert der Abschiebung ständig über der Familie. Als wieder einmal die Polizei zu Besuch ist, versucht die Mutter sich das Leben zu nehmen. Während sie in ein Sanatorium kommt, werden die Kinder in unterschiedlichen Pflegefamilien untergebracht. Oskar bei einem Lehrerehepaar, das sein soziales Gewissen beruhigen möchte, aber schon mit Baby und der an Demenz erkrankten Großmutter (Christine Ostermayer) überfordert ist. Lilli dagegen landet bei einer alleinstehenden Frau, die ebenfalls nur in Klischees denkt. In der Schule lernt Lilli immerhin Betty (Anna Fenderl) kennen, während Oskar in der Großmutter der Familie eine Bezugsperson findet, die ihn nicht als Projekt betrachtet, sondern von Mensch zu Mensch mit ihm kommuniziert.

Als zehnjähriger kam Arash T. Riahi aus dem Iran nach Österreich, schöpft also aus eigenen Erfahrungen, wenn er vom Leben zweier Flüchtlingskinder erzählt. Doch „Ein bisschen bleiben wir noch“ ist kein Problemfilm, kein Sozialdrama, das betroffen machen soll, sondern ein erstaunlich poetischer Blick auf einen oft ignorierten Aspekt der westeuropäischen Realität. Immer wieder erschüttern Berichte von Abschiebungen scheinbar gut integrierter Familien, die trotz Jahren in ihrer neuen Heimat in Länder zurückgeschickt werden, mit denen sie längst abgeschlossen haben. Angesichts solcher Umstände kann es kaum verwundern, wenn die Motivation, sich zu integrieren oft nicht sehr groß ist, zumal die Bereitschaft in den Gastländern, sich auf die Flüchtlinge und ihre schwierigen Geschichten einzulassen, ebenfalls oft gering wirkt.

In diesem Themenkomplex bewegt sich Riahis Film, der konsequent aus der Perspektive der Kinder erzählt. Mit ihrem Blick sehen wir die Welt, die nur oberflächlich liebevollen Gastfamilien, die Mutter, die im Sanatorium zur Ruhe kommen soll, dabei ihre Kinder fast vergisst, der Versuch der Geschwister, die Familie zurückzugewinnen. Zunehmend macht sich eine märchenhafte Stimmung breit, gleitet das Abenteuer von Oskar und Lilli ins Phantastische. Vielleicht auch eine Möglichkeit dem harschen Realismus von Flucht und Abschiebungen einen Moment der Hoffnung entgegenzusetzen – auch wenn er ein Traum bleibt.

Michael Meyns