Ein Prophet

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Der Titel des neuen Films von Jacques Audiard ist pure Ironie: In zweieinhalb mitreißenden Stunden schildert der Film den Aufstieg (oder Fall, je nach Sichtweise) eines Kleinganoven zum Gangsterboss. Die stilistische Mischung aus Realismus, Genrestrukturen und Fantastik, die Audiard dabei brillant einsetzt, ist gleichermaßen faszinierend und fragwürdig, macht „Ein Prophet“ aber fraglos zu einem der aufregendsten Filme der letzten Monate.

Webseite: www.ein-prophet.de

OT: Un Prophète
Frankreich 2009, 150 Minuten
Regie: Jacques Audiard
Drehbuch: Thomas Bidegain, Jacques Audiard
Kamera: Stéphane Fontaine
Schnitt: Juliette Welfling
Musik: Alexandre Desplat
Darsteller: Tahar Rahim, Niels Arestrup, Adel Bencherif, Reda Kateb, Hichem Yacoubi, Jean-Philippe Ricci, Gilles Cohen
Verleih: Sony
Kinostart: 11. März 2010

PRESSESTIMMEN:

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FILMKRITIK:

Es wäre sehr interessant zu wissen, was Michel Foucault, so er denn noch leben würde, zu diesem Film zu sagen hätte. Man darf davon ausgehen, dass Regisseur und Autor Jacques Audiard bei der Arbeit an seinem Film Foucaults „Überwachen und Strafen“ – die berühmte Studie des französischen Philosophen über die Genese des Gefängnissystems – im Kopf hatte. Denn darum geht es in „Ein Prophet“: Über das Wesen des Gefängnisses, in das ein relativ unbescholtener junger Mann hineingeworfen wird und sechs Jahre später als gehärteter, erfahrener Gangster hinauskommt.

Natürlich ist die Hauptfigur Malik El Djebena am Anfang nicht unschuldig. Was genau er getan hat bleibt ebenso offen wie weite Teile seines Hintergrunds. Narben im Gesicht, lange Striemen auf dem Rücken, die beiläufige Erwähnung einer Kindheit im Heim lassen nur ahnen, was Malik schon alles hinter sich hat, bevor er im Gefängnis landet. Dieses Spezielle wird weitestgehend von einem korsischen Mafiapaten namens Caeser Luciano beherrscht, der Malik gleich für einen Rachemord „auserwählt.“ Und kaum im Gefängnis angekommen, sieht sich Malik vor der Entscheidung, die sein Leben bestimmen wird. Aber ist es wirklich eine Entscheidung? Töten oder getötet werden, das ist seine Wahl und Malik entscheidet sich wie so viele in vergleichbaren Situationen fürs Töten.

Fortan steht er unter dem Schutz des Korsen, wird zum Laufburschen, später zum Vertrauten, der auf Freigängen die schleppenden Geschäfte am Leben hält. Dabei kommt Malik zu gute, dass er zwischen den einzelnen Fraktionen des Gefängnis wechseln kann. Als Franzose arabischer Herkunft, der später auch noch italienisch lernt, kommuniziert er sowohl mit den Korsen, als auch mit den zahlreichen Arabern, die zunehmend die Mehrheit und damit die Macht im Gefängnis an sich reißen. Denn von der Macht des Staates ist kaum etwas zu spüren, Gefängniswärter, Bewährungshelfer, jegliche Form der Resozialisierung verblasst hinter den Einflussmöglichkeiten Caesers.

Doch mit zunehmender Erfahrung, die sich in einem schleichenden Wandel des Aussehens, vor allem aber der Körpersprache Maliks zeigt, beginnt Malik für sich selbst zu denken und zu handeln. Er nimmt die Fäden selbst in die Hand, knüpft Kontakte und entwickelt sich vom Kleinganoven zu einem die Gesellschaft komplett unterminierendem Subjekt.

Am Ende muss man Malik wohl als Produkt des Systems sehen, dass sich nicht um seine Gefangenen kümmert. Ob Audiard Malik als Opfer betrachtet oder seine Stärke bewundert, bleibt dabei offen. Man kann dem Film diese unbestimmte Haltung vorwerfen, die mit immer wieder eingestreuten religiösen Konnotationen bisweilen so wirkt, als würde sie Malik tatsächlich überhöhen, in die Nähe eines Propheten setzen, der aus dem Elend zu persönlicher Stärke findet. Ebenso vage sind mögliche gesellschaftskritische Ansätze, die eher unter der Genregeschichte verborgen bleiben als wirklich im Vordergrund zu stehen. Worin allerdings auch die Stärke von „Ein Prophet“ liegt. Audiard predigt nicht, will nicht überdeutlich auf Missstände im Gefängniswesen hinweisen, sondern zeigt einen Teil der Gesellschaft einfach wie er ist. Dass er sich dabei aber auch nicht in einen scheinbaren Realismus flüchtet, sondern bewusst mit den Strukturen des Gefängnisfilm-Genres arbeitet, Maliks Geschichte zudem mit einigen mystisch-fantastischen Momenten überhöht, macht „Ein Prophet“ so zu einem faszinierendem Film. Brutal, schonungslos und enorm mitreißend.

Michael Meyns

Frankreich. Der 19jährige Malik El Djebena ist soeben zu sechs Jahren Haft verurteilt worden. Im Gefängnis haben die Korsen das Sagen, Cesar Luciano ist der „Pate“. In den Augen der Korsen gilt ein Typ wie Malik, ein „Araber“, als untergeordnet.

Luciano will einen Konkurrenten aus der Welt schaffen. Doch seine eigenen Leute dürfen sich damit nicht schmutzig machen. Da kommt der „Araber“ gerade recht.

Malik soll den Konkurrenten umbringen. Gefragt, ob er das tun will, wird er nicht. Er wird mit brutalsten, lebensgefährlichen Mitteln dazu gezwungen. Malik hat nicht die Wahl. In Visionen wird ihm der Ermordete später immer wieder erscheinen.

Malik ist Lucianos Bursche, Diener, Werkzeug. Irgendwann tritt eine Anordnung von Präsident Sarkozy in Kraft, wonach die Korsen künftig in ihrer Heimat inhaftiert gehalten werden müssen. Jetzt hat Luciano praktisch nur noch Malik. Er beantragt Freigang für diesen, beauftragt ihn mit Verhandlungen mit anderen Paten, Rauschgiftdealern oder Mafia-Größen und trägt ihm Verbrechen auf, die Malik für ihn auszuführen hat.

Der macht das Spiel mit, durchlebt dabei gemeinsam mit seinem Komplizen Ryad die heikelsten und spannendsten Situationen. Aber er riecht auch langsam den Braten. Warum nicht auf eigene Rechnung Drogen schmuggeln, warum nicht selbst reich werden, warum nicht auch ein „Großer“, ein Pate sein?

So geschieht es denn auch. Luciano hat am Ende, allein gelassen, nicht mehr viel zu sagen. Malik ist in den sechs Jahren gewachsen, gereift – allerdings auch zum Verbrecher geworden.

Ein harter Film. Die Brutalität, mit der zwischen den Gefangenen oder den Drogenschmugglern vorgegangen wird, ist unvorstellbar. Natürlich ist das hier Fiktion – aber gekoppelt mit viel Wirklichkeit und Wahrheit.

Nicht wenige Haftanstalten haben ein freizügiges Eigenleben, das sehr viel zulässt. Immer wieder einmal gibt es bestechliches Wachpersonal, oder die Aufsicht durch die Behörden ist zu oberflächlich. Als indirekte und latente Kritik scheint dies auch in „Ein Prophet“ durch.

Inszenierung und Montage des 150 Minuten langen Films sind äußerst intensiv. Der Film lässt einen nicht leicht wieder los. Manchmal sind Handlungsverschachtelungen kompliziert, da ist Aufmerksamkeit vonnöten.

Gespielt wird „super“ – vor allem von zwei Koryphäen, die dafür bereits Auszeichnungen einheimsten: Niels Arestrup als lange Zeit souveräner Luciano und Tahar Rahim als lange Zeit dienerhafter und dann explodierender Malik.

Übrigens erhielt „Ein Prophet“ 2009 in Cannes den Großen Preis der Jury.

Thomas Engel