Politsatire über Populismus in Ungarn - und überall. Der Schüler Abel rasselt bei der Abi-Prüfung durch. Er war mehr mit seiner neuen Liebe beschäftigt als mit der Vorbereitung. Dem enttäuschten Vater, einem begeisterten Orban-Anhänger, erklärt er clever, sein linker Lehrer habe ihn durchfallen lassen wegen einer Ungarn-Anstecknadel am Revers. Die Story zieht mediale Kreise und avanciert schnell zum nationalen Skandal. Ein Aufklärungsfilm der amüsant entlarvenden Art aus der Herzkammer der europäischen Rechtsausleger. Cineastisches Gegengift gegen Populismus - nie war es so wertvoll wie heute.
Webseite: https://grandfilm.de/
Slowakei, Ungarn 2023
Regie: Gábor Reisz
Darsteller: Gáspár Adonyi-Walsh, István Znamenák, András Rusznák, Rebeka Hatházi, Eliza Sodró
Filmlänge: 128 Minuten
Verleih: Grandfilm GmbH
Kinostart: 10. Oktober 2024
FESTIVALS: Filmfestspiele Venedig 2023; Viennale Eröffnungsfilm 2023 Filmfest München 2024
PREISE: Orizzonti Preis Venedig. CineMasters Award Filmfest München
FILMKRITIK:
„Lernst du?“ „Ich mache gerade Marmelade!“ so klingt der Chat zwischen Teenager Abel und Mitschülerin Janka. Eigentlich müsste Abel dringend seine Abi-Prüfung vorbereiten, aber er konzentriert sich lieber aufs Flirten mit seiner großen Liebe. Doch Janka ist mehr an Jakab interessiert. Jene 19 Jahre Altersunterschied zu ihrem Geschichtslehrer stören die schwer verknallte Schülerin so wenig wie der Umstand, dass der Pädagoge ein verheirateter Familienvater ist. In Abel erwacht die Eifersucht. Schlimmer noch: ausgerechnet beim verhassten Rivalen Jakab muss er sein mündliches Examen ablegen. Prompt rasselt der Abiturient durch die Prüfung. Vom Thema „Die industrielle Revolution in der Neuzeit“ hat der Schüler keinen Schimmer. Dafür eine clevere Ausrede. Schuld sei nur der linke Lehrer, wird er dem erzürnten Vater das Fiasko erklären. Der habe ich durchfallen lassen, wegen dem patriotischen Ungarn-Pin an seinem Anzug. Mit dieser Sündenbock-Story ist Abel aus dem Schneider. Sein stramm rechter Papa wittert sofort einen Skandal. Eine ehrgeizige Journalistin sieht in der Story gleichfalls das Skandal-Potenzial - sowie den günstigen Kick für ihre Karriere. Prompt geht die Pin-Story viral. Der linke Lehrer muss um seinen Job bangen. Abel bekommt eine zweite Chance fürs Examen. Nur bei Janka hat er jetzt noch schlechtere Karten als zuvor.
Regisseur Gábor Reisz erzählt seine in Venedig und München prämierte Polit-Parabel in locker gestalteten Kapiteln, die verspielte Titel tragen wie „Dienstag: Abel in der Wildnis.“, „Erika am Donnerstag“ oder „Als Gyorgys Dienstag den Bach runtergeht“. Im Focus steht der Abiturient, gleichwohl tragen auch die anderen Figuren ihre Puzzlestückchen zum Politpanorama bei. Da hat der Vater von Abel als Architekt so seine Probleme mit den Kollegen und Kunden mit grotesken Wünschen. Der Geschichtslehrer gerät gern in Streit mit seiner Gattin, wenn es um die Kinder geht. Auch seine Befragung von Zeitzeugen der Revolution scheitert, weil der Veteran von der chronischen Besserwisserei des Pädagogen genervt ist. Und dann ist da noch die in ihn verknallte Schülerin Janka, die von dessen Ehe nichts wissen will, „manche glauben, dass Sie schwul sind“, lässt sie süffisant fallen. Dass sie beim Examen beste Noten bekommt, macht Abel noch mehr eifersüchtig. Zum handfesten Showdown schließlich entwickelt sich ein Versöhnungsbesuch des Lehrers beim Papa seines Schülers.
Die Kamera ist stets mittendrin statt nur dabei. Reiß-Schwenks verleihen den Gesprächen der Akteure eine zusätzliche Dynamik. Fast dokumentarisch fallen derweil die Bilder der feiernden Teenager aus. Ob in den Straßen und der U-Bahn. Oder beim kollektiven Erstürmen eines Pools im Villenviertel, gemeinsame Flucht inklusive.
Die Story trödelt ein bisschen, bis sie in die Gänge kommt. Die Überlänge wirkt gleichfalls eher überflüssig. Ein paar rigorose Schnitte hätten, wie so oft, auch hier für mehr Biss gesorgt. Solche kleineren Macken macht jedoch nicht nur die groteske Story samt innovativer Bildführung wieder wett. Auch schauspielerisch kann die Politsatire punkten mit leinwandpräsentem Ensemble. Allen voran Newcomer Gáspár Adonyi-Walsh als meist gechillter, bisweilen genervter Teenager - mit verblüffenden Ähnlichkeiten zu „Ennui“ aus „Alles steht Kopf 2“.
Der Aufklärungsfilm in Sachen Fake-News, Skandalisierungsmaschinerie und Populismus entwickelt sich zum Festival-Überflieger mit Arthaus-Potenzial. Ein internationaler Erfolg des ungarischen Kinos, über den Viktor Mihály Orbán kaum amused sein dürfte.
Dieter Oßwald