Eine total normale Familie

Zum Vergrößern klicken

Vor wenigen Monaten löste „Harry-Potter“-Autorin Joanne K. Rowling mit ein paar ihrer Tweets viel Unmut aus: „sex is real“. Damit verneinte sie im Kern eine der wesentlichen geistigen Errungenschaften unserer Zeit, nach der es eben heißt, dass es das biologische Geschlecht im eigentlichen Sinne nicht gibt, sondern eben nur soziale Kategorien (Gender). Solche Statements von Prominenten wie Rowling zeigen, dass es noch einigen Aufklärungsbedarf in unserer Gesellschaft gibt. Dadurch bekommen Filme wie Malou Reymanns feinfühlig erzählte Tragikomödie „Eine total normale Familie“, die sich sanft gegen heteronormative Muster auflehnt, eine regelrecht politische Relevanz.

Website: https://salzgeber.de/einetotalnormalefamilie

Dänemark 2019
Originaltitel: En Helt Almindelig Familie
Regie: Malou Reymann
Drehbuch: Malou Reymann
Besetzung: Kaya Toft Loholt, Mikkel Boe Følsgaard, Neel Rønholt, Rigmor Ranthe
Dauer: 97 Min.
Verleih: Salzgeber Edition
Kinostart: 3. Dezember 2020

FILMKRITIK:

Die 11-jährige Emma (Kaya Toft Loholt) kickt am liebsten Fußball. Und das sogar noch lieber, wenn ihr Papa Thomas (Mikkel Boe Følsgaard) sie dabei anfeuert! Sie führt ein unbeschwertes Leben. Sogar ein Hund soll bald angeschafft werden, um das Familienidyll zu komplettieren. Bei einem Besuch auf dem Bauernhof, wo zu verschenkende Welpen gestreichelt werden dürfen, bricht ihr Vater auf dem Parkplatz in Tränen aus. Streit zwischen den Eltern? Auf der Rückfahrt herrscht angespanntes Schweigen. Daheim scheint der Vorfall wieder vergessen. Es gibt Pizza zum Mittagessen. Doch die Pizza bleibt Emma und ihrer Schwester im Hals stecken, als die Mutter unmittelbar die bevorstehende Scheidung verkündet. Papa Thomas schweigt betreten. Den Grund ergänzt die Mutter sogleich: „Euer Vater wird eine Frau.“ „Aber das kann man sich doch nicht aussuchen?“ stutzt Emma. „Ein bisschen schon.“ lautet die entnervte Antwort.

Danach geht alles relativ schnell vonstatten. Es verstreichen nur wenige Wochen, bis sich die Familie im Raum einer Psychologin wiederfindet und „Abschied“ nimmt vom Vater Thomas, der nun als Frau auftritt und sich „Agnete“ nennt. „Ein schöner Name“ findet die etwas größere Schwester. Sie akklimatisiert sich schneller mit der neuen Situation als Emma, die nur stumm auf ihrem Stuhl sitzt und einen Schal um den Kopf gewickelt hat. Sie will Agnete nicht sehen, will nicht sehen, dass es keinen Thomas mehr gibt, dass ihr Vater – jedenfalls so, wie sie ihn kannte – fort ist, ersetzt durch ein neues Erscheinungsbild. Auf ebendiese Schwierigkeit, die totale Umkehr eines Weltbildes, konzentriert sich Reymann in ihrem Film: die Erschütterung, wenn ein Mensch, den man meint, gut zu kennen, auf einmal „jemand anderes“ wird. Oder eben halt genau er/sie selbst. Emma begreift kaum, was im Inbegriff ist, zu passieren, da ist es auch schon passiert. Binnen weniger Wochen reist die Person, die ihr Vater ist, nach Thailand, unterzieht sich der Geschlechtsumwandlung, und kehrt als geschlechtlich angepasste Frau zurück. „Was macht er da?“ Fragt Emma ihre Schwester zu einem späteren Zeitpunkt, als sie Agnete von hinten mit zugedeckten gespreizten Beinen ihm Wohnzimmersessel sitzen sieht. „Dilatation. Damit die Vagina nicht zuwächst.“ In der vorläufigen Verletztheit und Irritation Emmas, die sich zu Beginn noch um ihren Vater betrogen fühlt und Agnete nicht als neue Bezugsfigur annehmen kann, spiegeln sich eigene Erfahrungen der Regisseurin, die selbst mit einem Trans-Vater aufgewachsen ist. Schritt für Schritt erschließt sie die ambivalenten Gefühle, die Emma durchlebt. In einer weitestgehend akzeptierenden Umgebung fällt das dann besonders stark auf, was ihr auch immer wieder Vorwürfe von der großen Schwester einhandelt und ein tiefes Schuldgefühl auslöst, das den zwischenmenschlichen Umgang zusätzlich erschwert. Die junge Kaya Toft Loholt spielt diese innere Blockade mit einer beeindruckenden Präsenz und nachfühlbarem Befremden, wie als Agnete – obenrum frei – bei einem Badeurlaub stolz und unbekümmert zu Emma ins Meer steigt, die mit kaum verhohlener Verlegenheit Agnetes Körper mit den neuen konvexen Formen anstarrt.

Malou Reymann gelingt in ihrem sehr berührenden Regiedebüt der Spagat zwischen Tragik und subtiler Komik ganz wunderbar. Eine weitere Stärke ihres Films ist, dass sie für ein Thema sensibilisiert, ohne es kontinuierlich zu problematisieren. Mit „Eine total normale Familie“ liefert sie eine schöne und universelle Parabel darüber ab, dass es auf biologische Äußerlichkeiten eben nicht ankommt. Und, dass vielleicht gerade Veränderungen, so groß sie anfangs auch anmuten mögen, genau das sind: total normal.

Nathanael Brohammer