Eine unerhörte Frau

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Was tun, wenn die eigene Tochter zusammenbricht, immer schlechter sieht und viel zu klein für ihr Alter ist, kein Arzt aber etwas findet. Schlimmer noch: wenn Lehrer und Mediziner sie für eine Simulantin halten. Sechs Jahre zog sich der Kampf der Mutter hin, bis die erschreckende Diagnose feststand: Gehirntumor. Das Drama „Eine unerhörte Frau“ beruht auf einer wahren Begebenheit und erweist sich als ergreifender, hochemotionaler Film, dessen geschilderte Ereignisse fassungslos machen. Verantwortlich für die hohe filmische Qualität sind die authentischen Darsteller-Leistungen und die kunstvolle Erzählweise von "Anne Frank"-Regisseur Hans Steinbichler, die drei Handlungsebenen geschickt miteinander verbindet.

Webseite: www.eine-unerhörte-frau.de

Deutschland 2015
Regie: Hans Steinbichler
Drehbuch: Christian Lex, Angelika Schwarzhuber
Darsteller: Rosalie Thomass, Romy Butz, Gisela Schneeberger,
Sylvana Krappatsch
Länge: 90 Minuten
Verleih: Wild Bunch
Kinostart: 06. Oktober 2016
 

FILMKRITIK:

Die Bäuerin Hanni Schweiger (Rosalie Thomass) sorgt sich um ihre Tochter Magdalena (Romy Butz). Sie sieht schlecht, ist schwach und zudem viel zu klein für ihr Alter. Kein Arzt kann etwas feststellen. Die Mediziner sind der Ansicht, dass das Mädchen nur simuliert. Durch die Suche nach dem passenden Arzt, fühlt sich Hannis Familie immer mehr vernachlässigt. Hinzu kommt der Ärger mit ihrer Schwiegermutter (Gisela Schneeberger), die der Meinung ist, Hanni solle sich mehr um ihren Mann (Florian Karlheim) kümmern. Niemand ahnt zu diesem Zeitpunkt, dass das Mädchen unter einem Gehirntumor leidet. Nach jahrelanger Suche trifft Hanni auf Dr. Espach (Sylvana Krappatsch), die ihr endlich von der Möglichkeit einer Operation in den USA berichtet. Hanni fliegt in die Staaten, um die letzte Chance zu wahren. Und ganz am Ende steht der Kampf um Gerechtigkeit vor der bayerischen Justiz, um all die Ärzte zur Verantwortung zu ziehen, die Magdalena nicht glauben wollten.

„Eine unerhörte Frau“ beruht auf der wahren Lebens- und Leidensgeschichte der Schriftstellerin Angelika Nachtmann. Im Film wird sie verkörpert von Rosalie Thomass, die zu den gefeiertsten deutschen Darstellerinnen der letzten Jahre gehört. Schon relativ zu Beginn ihrer Karriere, ab 2006, wurde sie u.a. mit dem Förderpreis Deutscher Film, dem Deutschen Fernsehpreis sowie dem Adolf-Grimme-Preis ausgezeichnet. Regie führte Hans Steinbichler, ehemaliger Professor für TV- und Kino-Regie an der Filmschule Köln. Steinbichler wurde vor allem durch „Das Tagebuch der Anne Frank bekannt“ bekannt, der Anfang 2016 im Kino lief.

In einem Interview sagte Angelika Nachtmann vor kurzem, dass der Film lediglich die Spitze des Eisbergs zeige, in Wahrheit sei alles noch viel schlimmer, zermürbender gewesen. Doch allein das, was der Film zeigt, ist derart schwer zu glauben und auch als Zuschauer zu ertragen, dass es schmerzt. Hätte sich die Geschichte nicht in Wirklichkeit so zugetragen – man würde die Darstellung der immer wieder an den Aussagen des leidenden Mädchens zweifelnden Mediziner, für unglaubwürdig und überzogen halten. In ihrer Verkörperung der über sechs Jahre kämpfenden und nach einer Diagnose suchenden Mutter, ist Rosalie Thomass als Hanni Schweiger herausragend.

Irgendwie muss Hanni es schaffen, die harte Arbeit auf dem Hof mit der Fürsorge für ihre beiden Söhne und dem Ärger mit der Schwiegermutter, die am liebsten eine andere Frau im Haus hätte, zu vereinen. Und  dazu kommen die immer schwerer wiegenden Symptome der Tochter. Thomass legt ihre Figur äußerst sensibel und emotional an, immer um das Wohl der Familie bedacht. Im Laufe des Films gewinnt sie an Stärke und Selbstbewusstsein, sie befasst sich mit alternativen Therapien, bildet sich in Naturheilkunde und Akupunktur – und scheut am Ende nicht den Gang vors Gericht. Thomass schafft es, ihren Charakter jederzeit realistisch und lebensecht anzulegen.

Ihr in nichts nach steht die junge Romy Butz, die trotz ihres Alters den unglaublichen Leidensweg ihrer Figur mit viel Feingefühl und ebenfalls sehr glaubwürdig darstellt, ohne übertriebenes Spiel. Und auch Florian Karlheim als Hannis Mann agiert überzeugend und schlüssig. Zwar ist auch er irgendwann der Ansicht, Hanni übertreibe es mit ihrem Engagement (nicht zuletzt als Rechnungen über mehrere Tausend Euro für selbst zu zahlende Therapien ins Haus flattern), aber gegen Ende, kurz vor Hannis Flug in die USA, sagt er etwas, dass ihn umgehend rehabilitiert und klar macht: er stand zu lange unter dem Einfluss seiner herrischen Mutter.

Fassungslos machen die Aussagen der Ärzte. Magdalena sei „psychisch instabil“, brauche lediglich ein wenig „frische Luft“, eine Brille mit Fenstergläsern oder habe eine nicht ernst zu nehmende Essstörung. Dass dies nicht der Fall ist, wird spätestens in einer der eindringlichsten Szenen des Films klar, in der Hanni mit ihrer Tochter eine Bergwanderung unternimmt – das Kind nach Kurzem aber schon nicht mehr in der Lage ist, selbst zu gehen. „Ich glaub‘, ich geh kaputt“, flüstert sie kraftlos und bricht zusammen. Kunstvoll ist weiterhin die Erzählweise des Films, der drei unterschiedliche Zeitebenen auf dramaturgisch kluge Weise miteinander verwebt. Der älteste Handlungsabschnitt macht nämlich schon relativ zu Beginn klar, dass Hanni als Kind selbst etwas Traumatisches erlebte und ihr ein ähnliches Schicksal wie der eigenen Tochter zuteilwurde: niemand wollte ihr Glauben.

Björn Schneider