Einhundertvier

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Das Anliegen der packenden Echtzeit-Doku „Einhundertvier“ ist es, nicht weg-, sondern hinzuschauen. Auch wenn es schwerfällt und zur Grenzerfahrung wird. Regisseur Jonathan Schörnig schildert darin die Seenotrettung von 104 Personen auf dem Mittelmeer durch freiwillige Helfer der Mission Lifeline. Mehrere Kameras präsentieren auf einem Split-Screen gleichzeitig die Handlungen an den unterschiedlichen Orten: auf dem Rettungsschiff, dem Beiboot, dem Gummiboot der Geflüchteten.

Deutschland 2023
Regie: Jonathan Schörnig
Buch: Adrian Then, Jonathan Schörnig

Länge: 93 Minuten
Verleih: UCM.One
Kinostart: 23. Mai 2024

FILMKRITIK:

Jedes Jahr kostet die tödlichste Fluchtroute der Welt über das zentrale Mittelmeer tausende Menschen das Leben. Schon im ersten Halbjahr 2023 starben dort fast 2.000 Menschen. Im Anschluss werden die Helfer und deren Aktionen nicht selten kriminalisiert. Zivile Helfende von Vereinen wie Mission Lifeline bringen sich dennoch freiwillig in Gefahr, um den hilflos auf dem offenen Meer treibenden Geflüchteten zu helfen. Eine solche Rettungsaktion der Mission Lifeline begleitete Regisseur und Drehbuchautor Jonathan Schörnig für seine Doku „Einhundertvier“. Der Film macht klar, wie mühsam und kraftraubend es ist, 104 Menschen von einem kleinen Schlauchboot zu bergen. Und das unter enormem Zeitdruck, denn die aggressive libysche Küstenwache taucht auf und kommt dem Rettungsboot „Eleonore“ und der deutschen Besatzung bedrohlich nah.

Wir alle kennen die Bilder von überfüllten, im Meer treibenden Flüchtlingsbooten oder die TV-Aufnahmen, die zeigen, wie die Rettungsschiffe mit den Geflüchteten in Häfen einlaufen. Oft nach Tagen auf hoher See, da etliche Mittelmeerhäfen die Landung verweigern. So erging es auch den Geflüchteten und der Besatzung der „Eleonore“. „Einhundertvier“, der Titel spielt auf die Zahl der Geretteten an, schildert ausführlich, was die (unbeteiligten) Menschen zu Hause an den TV-Geräten sonst nicht sehen und mitbekommen. Nämlich, wie eine solche lebensbedrohliche Aktion im Detail abläuft und unter welchem Druck alle Beteiligten stehen.

Das Besondere an „Einhundertvier“ ist die technische Umsetzung. Bis zu sechs Kameras filmen parallel das Geschehen auf hoher See. Jede Kamera dokumentiert dabei eine andere Situation und ist auf unterschiedliche Beteiligte des Rettungsteams gerichtet. Die finalen Bilder sieht der Kinozuschauer auf einem Split-Screen angeordnet – und kann so selbst entscheiden, was er beobachten will. Eine Perspektive zeigt den Schiffsführer und Skipper, wie er Funksprüche absendet und versucht, einen Überblick zu wahren.

Eine andere Kamera dokumentiert die Geschehnisse auf dem Beiboot, das sich auf dem Weg zum Flüchtlingsboot macht. Dort verteilt eine Mission-Lifeline-Retterin Westen an die über 100 Menschen in dem Gummiboot, die völlig entkräftet sind und unter Schock stehen. Weitere Kameras verfolgen die Ereignisse auf der „Eleonore“, etwa wenn weitere Helfer die Flüchtlinge an Bord des Rettungsboots nehmen. Einer nach dem anderen, Schritt für Schritt. Am Ende dauert der Rettungseinsatz 90 lange, quälende Minuten.

Man verfolgt die teils hektischen, dramatischen Ereignisse gleichzeitig und es entsteht so auch beim Zusehen ein Gefühl der Anspannung und inneren Unruhe. Natürlich kann man nur erahnen, wie sich die Retter und Geretteten in der jeweiligen, echten Situation vor Ort gefühlt haben müssen – „Einhundertvier“ gelingt es dennoch, ein beklemmendes, nachdrückliches Gefühl hervorzurufen. Und einen authentischen Eindruck von einer lebensgefährlichen Seenotrettungs-Aktion im Mittelmeer zu vermitteln, der an Realismus nicht zu übertreffen ist.

 

Björn Schneider