Elfriede Jelinek – Die Sprache von der Leine lassen

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Als Skandal wurde es 2004 bezeichnet, als die österreichische Autorin Elfriede Jelinek mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet wurde. Von diesem Ereignis ausgehend, montiert Claudia Müller ihre assoziative Kollage, die anhand von reichhaltigem Archivmaterial und vielen Textbausteinen Jelineks, ein eindringliches Porträt der Autorin zeichnet, das neben vielem anderen Lust darauf macht, Jelinek zu lesen.

Deutschland 2022
Regie & Buch: Claudia Müller
Dokumentarfilm

Länge: 96 Minuten
Verleih: farbfilm Verleih
Kinostart: 10. November 2022

FILMKRITIK:

„Für den musikalischen Fluss von Stimmen und Gegenstimmen in Romanen und Dramen, die mit einzigartiger sprachlicher Leidenschaft die Absurdität und zwingende Macht der sozialen Klischees enthüllen." So begründete die Schwedische Akademie 2004 den Literaturnobelpreis für Elfriede Jelinek, die zuvor schon mit zahlreichen anderen Auszeichnungen im deutschsprachigen Raum für ihr umfassendes literaisches und dramatisches Werk gewürdigt worden war.
Die Kritik an Jelineks Arbeit verstummte durch den wichtigsten Literaturpreis allerdings nicht, im Gegenteil. Gerade der deutsche Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki lies kaum ein gutes Haar an Jelineks Texten, bezeichnete sie als wenig talentiert und vor allem eintönig. Ein Vorwurf, der vielleicht sogar nicht ganz von der Hand zu weisen war, beschäftigte sich Jelinek doch immer wieder mit der Rolle der Frau in der Gesellschaft, genauer gesagt, der Unterdrückung der Frauen.

Die allerdings nicht nur von Seiten der Männer stattfand, sondern durchaus auch von Frauen selbst ausging, wie Jelinek am eigenen Laib erfahren musste. Sie, die 1946 in der Steiermark geborene, in Wien aufgewachsen, wurde von ihrer Mutter aufs Wiener Konservatorium geschickt, lernte diverse Instrumente, ist ausgebildete Organistin. So intensiv war das Programm, das von der Mutter aufgezwungen war, dass sogar Lehrer an der Schule anmerkten, dass es vielleicht des Guten zu viel war.

Von solchen Erfahrungen berichtet Jelinek, nicht in einem aktuellen Interview mit der Regisseurin, sondern in Gesprächen, die meist lange vor dem Nobelpreisjahr stattfanden. Davor trat Jelinek zumindest gelegentlich noch in der Öffentlichkeit auf, äußerte sich zu ihrem Leben und vor allem dem Werk, bevor eine „diffuse Angst“, wie sie es selbst nannte, sie zu einem immer zurückgezogeneren Leben zwang. Selbst zur Verleihung des Nobelpreises konnte Jelinek nicht nach Stockholm reisen.

Aus der Not geboren mag die Form von Claudia Müllers Dokumentarfilm „Elfriede Jelinek – Die Sprache von der Leine“ somit sein, doch sie erweist sich als ideal für eine Schriftstellerin, deren Denken man sich – so wie es sein soll – am Besten über ihre Sprache annähert. Eine reiche, aus Archivmaterial schöpfende Bildkollage hat Müller zusammengetragen, unterlegt mit Auszügen aus Interviews mit Jelinek, vor allem aber Auszügen aus ihren Texten. Vorgetragen werden von Schauspielern wie Sophie Rois, Martin Wuttke oder Sandra Hüller, formen diese Textfragmente eine intensive, assoziative Kollage, die eine Idee von der Schärfe und Genauigkeit der Jelinekschen Prosa geben. Genau dafür wurde sie ausgezeichnet, aber auch geschmäht, von alten, weißen Männern, von Österreicherin im Allgemeinen, die nicht goutierten, mit welcher Kraft, Jelinek die Missstände ihrer Heimat aufzeigte. Claudia Müllers Film erzählt viel über Österreich und den Literaturbetrieb, macht aber vor allem Lust darauf, Elfriede Jelineks Werk (wieder) zu lesen.

 

Michael Meyns