Emilia Pérez

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Kaum zu glauben, was Jacques Audiard in seinem neuen Spielfilm „Emilia Pérez“ gelingt: Dinge, die eigentlich nicht zusammenpassen, ergeben hier ein stimmiges Ganzes, das 130 Minuten lang mitreißend unterhält. Im Zentrum des Geschehens: Eine mexikanischer Kartellboss, der fortan als Frau leben möchte und dafür sein altes Dasein aufgibt. Gerne hätte man Mäuschen gespielt, als der Regisseur seinen Pitch möglichen Geldgebern unterbreitete. Dass der Mix aus Gangstergeschichte, Transgender-Drama, Telenovela und Musical sofort auf einhellige Begeisterung stieß, ist jedenfalls nur schwer vorstellbar. Umso besser, dass Audiard den Stoff, frei nach dem Roman „Écoute“ von Boris Razon, dennoch umsetzen konnte.

Frankreich 2024
Regie: Jacques Audiard
Drehbuch: Jacques Audiard, frei nach dem Roman „Écoute“ von Boris Razon
Cast: Zoe Saldaña, Karla Sofía Gascón, Selena Gomez, Adriana Paz, Edgar Ramírez, Mark Ivanir, Eduardo Aladro, Emiliano Hasan u. a.
Länge: 130 Minuten
FSK: ab 12 Jahren
Verleih/Vertrieb: Neue Visionen Filmverleih in Zusammenarbeit mit Wild Bunch Germany
Website: https://www.neuevisionen.de/de/filme/emilia-perez-153
Kinostart: 28. November 2024

FILMKRITIK:

Mit den Erwartungen des Publikums spielt der Film schon in den ersten Minuten. Erweckt er doch kurz den Anschein, als wolle er im Folgenden das korrupte Justizsystem Mexikos sezieren. Angewidert von den Verhältnissen ist die clevere Anwältin Rita Moro Castro (Zoe Saldaña), die immer wieder dafür sorgen muss, dass Schwerverbrecher und Frauenschläger vor Gericht gut dastehen. Den Applaus für ihre Erfolge holt sich natürlich ihr Kotzbrocken von einem Chef ab, den keinerlei Gewissensbisse plagen ob der Winkelzüge, mit denen sie schuldige Menschen rauspauken.

Rita staunt nicht schlecht, als ihr eines Tages ein höchst ungewöhnlicher Auftrag ins Haus flattert: Der gefürchtete Kartellboss Manitas Del Monte (gespielt von der spanischen Transdarstellerin Karla Sofía Gascón) fühlt sich in seinem Körper schon lange unwohl und möchte nun endlich die Transition zur Frau angehen. Alles, was war, soll der Vergangenheit angehören. Ritas Aufgabe besteht nun darin, einen geeigneten Arzt für den Eingriff zu finden, irgendwo ein sicheres neues Leben für Manitas‘ Frau Jessi (Selena Gomez) und die gemeinsamen Kinder aufzubauen und die Spuren der Unterweltgröße zu verwischen. Jahre nach der erfolgreichen Umsetzung des Plans sehen sich die Anwältin und ihre nun Emilia Pérez heißende frühere Klientin wieder. Wenig verwunderlich ist es nicht ganz so einfach, wie gedacht, wirklich alles hinter sich zu lassen.

Audiards Mut ist bemerkenswert. Denn angesichts der Thematik hätte er sich mit „Emilia Pérez“ auch komplett in die Nesseln setzen können. Transgender-Geschichten wurden bislang – siehe etwa „Close to You“ (2023) mit Elliot Page – fast ausschließlich als ernste Dramen erzählt. Die Identitätsfindung mit und über Musicalnummern zu schildern, ist gewöhnungsbedürftig, funktioniert aber hervorragend. Ist man einmal drin, hat man sich einmal anstecken lassen von der gleich zu Beginn entfachten Energie, entwickelt der Film eine emotionale Wahrhaftigkeit, wie sie viele klassische Charakterporträts nicht erreichen.

Einer der Gründe für den Erfolg: Der Regisseur und Drehbuchautor setzt auf Abwechslung, inszeniert aufwendig choreografierte Gesangs- und Tanzeinlagen. Etwa, wenn Rita in einem Lied über ihre Arbeit klagt und damit alle Menschen auf der Straße ansteckt. Daneben gibt es aber auch hochintime Momente. Musicaleinlagen, die den Fokus schon durch die Lichtsetzung und die Geräuschausblendung voll und ganz auf wenige Figuren lenken. Ein Beispiel ist die Wiederbegegnung zwischen der Anwältin und Emilia in einem Restaurant in London, die etwas Knisternd-Bedrohliches an sich hat. Was genau will die Ex-Verbrecherin? Diese Frage stellt sich nicht nur Rita. Zu den stärksten Szenen gehört zweifelsohne ein Bettgespräch Emilias mit ihrem Sohn. Sehnsucht, Schmerz und Geborgenheit werden hier durch die Musik und kleine Gesten wunderbar vermittelt.

Sicherlich arbeitet der Film auch mit einigen Klischees, vor allem der Vorstellung Mexikos als ein Land, in dem Brutalität und Korruption vorherrschen. Eingebettet sind die typischen Kinomotive allerdings in einen unkonventionellen Rahmen, der Platz für Überraschungen lässt. Erst zum Ende hin wird die Handlung vorhersehbarer, verläuft sie in erwartbaren Bahnen. Eine Frage, die Audiard umkreist: Inwieweit ändert sich durch die Transition die Persönlichkeit? Kann Emilia ihr altes Leben, ihre alten Verhaltensmuster wirklich ablegen? Oder steckt nach wie vor ein Stück der grausamen Kartellgröße in ihr? Vielleicht hätte „Emilia Pérez“ diesen Gedanken noch etwas mehr vertiefen können. Unbestreitbar ist aber, dass die Hauptdarstellerinnen, allen voran Karla Sofía Gascón, mit ihrem eindringlichen Spiel Oberflächlichkeiten fast vergessen machen.

Christopher Diekhaus