Eo

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Die Welt aus der Sicht eines Esels – Jerzy Skolimowski, der große polnische Regisseur, liefert in seinem neuesten Film eine ebenso wagemutige wie gelungene Neuinterpretation des Klassikers „Zum Beispiel Balthasar“ (1966) von Robert Bresson. Skolimowski spielt gekonnt mit Stimmungen und Schwingungen, er experimentiert mit Licht und Farben, erschafft magische Bilder von unvergesslicher Schönheit und erzählt dabei doch eigentlich eine sehr einfache und sehr poetische Geschichte, die sich durchaus als Parabel auf das Leben der Menschen verstehen lässt.

Auszeichnungen/Preise (Auswahl)
2022 Internationales Filmfestival Cannes, Preis der Jury
2022 Europäischer Filmpreis, Beste Filmmusik
Offizieller Beitrag Polens für die Oscars 2023

Webseite: https://rapideyemovies.de/

Polen/Italien 2022
Regie: Jerzy Skolimowski
Drehbuch: Ewa Piaskowska, Jerzy Skolimowski
Darsteller: ein grauer Esel, Sandra Drzymalska, Mateusz Kosciukiewicz, Tomasz Organek, Isabelle Huppert
Kamera: Michał Dymek
Musik: Paweł Mykietyn

Länge: 88 Minuten
Verleih: Rapid Eye Movies
Kinostart: 22.12.2022

FILMKRITIK:

Im roten Stroboskoplicht einer Zirkusmanege fällt ein Esel zu Boden, ein Mädchen tanzt um ihn herum – und wenig später erhebt sich das Tier auf Zuruf unter dem Applaus des Publikums. Das Mädchen heißt Kasandra, sie nennt den Esel Eo, was lautmalerisch im Polnischen das gleiche bedeutet wie Iah im Deutschen. Doch das schöne Leben beim Zirkus, wo Eo von Kasandra gepflegt und umsorgt wird, hat bald ein Ende, denn zum einen gibt es heftige Proteste von Tierschützern gegen die Zirkusbetreiber und zusätzliche Finanzprobleme. Alle Tiere werden gepfändet und wie Strafgefangene vom Gerichtsvollzieher abgeführt. Aus dem Artisten Eo wird eine Art Sozialarbeiter: Er ist dazu da, um durch seine Anwesenheit ein hypernervöses Vollblutpferd zu beruhigen. Draußen auf der Weide galoppieren die großen Kollegen vom Gestüt, und Eo sieht ihnen vom dunklen Stall aus sehnsüchtig zu. Doch diese Karriere wird ebenfalls nicht lange dauern, denn schon bald zeigt Eo seine störrische Seite und wird wieder verkauft, nicht zum letzten Mal. Eo durchquert im Laufe seines Eselslebens nicht nur ganz Polen, sondern er reist über die Alpen bis nach Italien. Zwischendurch ist er das Maskottchen einer Fußballmannschaft oder ein Therapie-Eselchen für behinderte Kinder. Eo kommt viel rum und muss viel durchmachen, nicht alle sind nett zu ihm und einige Menschen erweisen sich sogar als böswillig. Eo tut, was er kann, und meistens auch, was er soll. Ein braver Esel in einer schlechten Welt.

Jerzy Skolimowski, immerhin schon Mitte 80, hat daraus einen wilden, beinahe anarchischen Film gemacht. Er taucht seine Geschichte in traumhaft schöne und manchmal verwirrende Bilder, die an Experimentalfilme erinnern. Auch wenn sich der Sinn gelegentlich nicht sofort erschließt und der Eindruck entstehen könnte, es handele sich um einen Episodenfilm, so folgen sie doch einer inneren Logik. Viel eher handelt es sich um ein Road Movie mit einem Esel in der Hauptrolle. Skolimowski spielt mit Verfremdungen, mit Schärfe und Unschärfe, aber auch mit ungewöhnlichen Kameraperspektiven. Dazu passt die großartige Musik – viele Moll-Töne, melancholische, klassisch angehauchte Orchesterklänge. Die Kameraarbeit von Michał Dymek ist unfassbar gut, sie macht den Film zum cineastischen Leckerbissen. Der Flug über eine rotgefärbte Landschaft, meditative Wasserbilder, zauberhafte Nachtaufnahmen vom Leben im Wald, die Freiheit der Wildnis im Kontrast von Hell und Dunkel. Die Natur wird in ihrer poetischen, schlichten Schönheit gezeigt, die Bauten von Menschen wirken dagegen wie Fremdkörper, und manchmal sogar die Menschen selbst, so wie Isabelle Huppert, die plötzlich und unerwartet als reiche Adlige erscheint und auf so bedrohlich hohen Absätzen umherstakst, dass man um ihr Leben fürchten muss. Eo ist einerseits Zeuge dessen, was um ihn herum vorgeht, aber er ist nicht ganz machtlos. Auch wenn er schon mal mit 3 Hufen im Jenseits ist – Eo rappelt sich auf, weniger erfüllt von Lebenslust als vom instinktiven Willen, durchzuhalten und weiterzumachen, bis sich am Ende sein Schicksal erfüllt.

„Eo“ ist oberflächlich betrachtet erstmal ein Appell an die Menschheit, den Tieren, mit denen sie leben, mehr Aufmerksamkeit und Zuwendung zu schenken. Das erinnert thematisch an Viktor Kossakovskys Dokumentarfilm „Gunda“, in dem ein Schwein und die Tiere des Bauernhofs im Mittelpunkt stehen, oder an „Cow“ von Andrea Arnold über das triste Dasein einer Kuh. Doch Skolimowski macht noch mehr daraus: Zum einen ist sein Werk keine Dokumentation, sondern ein durchkomponierter Spielfilm mit insgesamt 6 verschiedenen Eseln in der Hauptrolle und als Stunt-Esel und mit Menschen, die über Eos Leben bestimmen. Es gibt nur wenige Dialoge im Sinne einer Kommunikation von Menschen untereinander, und demzufolge gibt es auch keine Entwicklung, die an Dialoge gekoppelt ist. Skolimowski erzählt seine Geschichte aus der Perspektive des Esels, der sich in unterschiedlicher Weise artikuliert: Ab und an wirkt er regelrecht unternehmungslustig, manchmal blickt er mit wehmütigen Eselsaugen auf die Welt, er träumt, er kann lieben und hassen. Die unterschiedlichen Stationen seiner Karriere erträgt er nur scheinbar gleichmütig. Ohne ihn irgendwie zu vermenschlichen, macht Skolimowski ihn zum traurigen Helden einer Geschichte, die sich immer stärker zu einer Parabel auf den Zustand der Welt entwickelt. Und da steht es bekanntlich nicht zum Besten. Eo ist der Inbegriff der Unschuld. Es bleibt ihm gar nichts anderes übrig, als den Menschen zu vertrauen, denn er ist auf sie angewiesen. Die Frage, ob er eher Sklave, Freund oder ein billiger Lohnarbeiter ist, stellt sich für ihn nicht. Das erinnert dann sehr stark in der Konsequenz und in der Symbolkraft an Robert Bressons Klassiker „Zum Beispiel Balthasar“, den Jerzy Skolimowski hier nicht nur neuinterpretiert, sondern auch liebevoll zitiert – in seiner ganzen melancholischen Schönheit. Das Leben – ein Eselstraum, könnte man sagen. Oder vielleicht auch: Sind wir nicht alle ein bisschen Eo?

 

Gaby Sikorski