Euforia

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In Valeria Golinos zweiter Regiearbeit treffen zwei Brüder aufeinander, die unterschiedlicher nicht sein könnten: Der eine, ein weltgewandter und in der Innenstadt Roms lebenden Partylöwe. Der andere, ein schüchterner und mit seinem Eheleben hadernder Provinzler. Nach einem unvorhergesehenen Ereignis müssen sich die zwei grundverschiedenen Charaktere aneinander annähern. In ihrem 2018 gedrehten Drama lotet Golino innerfamiliäre Konflikte aus und stellt Fragen zu Moral, Schicksal sowie Vergänglichkeit.

Webseite: www.missingfilms.de

Italien 2018
Regie: Valeria Golino
Drehbuch: Valeria Golino, Francesca Marciano, Valia Santella
Darsteller: Riccardo Scamarcio, Valerio Mastandrea, Isabella Ferrari, Valentina Cervi, Jasmine Trinca
Länge: 115 Minuten
Verleih: missingFilms
Kinostart: 20. Februar 2020

FILMKRITIK:

Matteo (Riccardo Scamarcio) ist ein erfolgreicher Unternehmer, der in einer riesigen Wohnung in Rom lebt und sein Dasein als ungebundener, attraktiver schwuler Mann in vollen Zügen genießt. Ganz anders sein älterer Bruder Ettore (Valerio Mastandrea). Er ist introvertiert und neigt zu Schwermut, auch weil er Gewissensbisse hat: Seine Ehefrau betrügt er seit längerer Zeit mit einer 20 Jahre jüngeren Frau. Sonderlich viel miteinander zu tun hatten Matteo und Ettore nie, doch das ändert sich schlagartig mit einer unerwarteten Diagnose. Denn als Ettore schwer erkrankt, beschließt sein Bruder ihn für die Dauer der Therapie zu sich zu holen. Fortan leben die Brüder auf engstem Raum und sind gezwungen, eine Beziehung aufzubauen.

Bereits in ihrer ersten Regiearbeit, dem Drama „Miele“ von 2013, bewies die ausgebildete Schauspielerin Valeria Golino („Rain Man“) ihr Talent dafür, die Befindlichkeiten und inneren Kämpfe ihrer Figuren sorgsam und feinfühlig herauszuarbeiten. Genau das gelingt ihr auch in „Euforia“. Sie nimmt sich viel Zeit und Raum, um ihre beiden männlichen Protagonisten ausführlich zu charakterisieren. Wenn sie dem selbstverliebten Matteo ins exzessive römische Nachtleben folgt oder ihm bei einem Familientreffen vor Selbstsicherheit und Zynismus strotzende Sätze in den Mund legt wird schnell klar: Wir haben es mit einem erfolgsverwöhnten, leicht arroganten Lebemann zu tun, dessen Charakter sich nicht deutlicher von dem seines Bruders abheben könnte.

Aus dieser Diskrepanz heraus ergibt sich eine enorme Spannung, denn sobald die Geschwister aufeinander treffen und erst recht nachdem Ettore bei Matteo eingezogen ist spürt man unterschwellig eine Atmosphäre des Misstrauens. Der Umgang der Zwei miteinander wirkt angespannt und vor allem zu Beginn erscheint alles ziemlich gezwungen. Als Zuschauer fragt man sich unweigerlich: Gab es in der Vergangenheit vielleicht ein bestimmtes Ereignis, das zu diesen Vorbehalten und der Disharmonie geführt hat? Aus dieser Frage bezieht „Euforia“ einen großen Reiz. Golino beherrscht hier das Spiel mit den Erwartungshaltungen und subtilen Andeutungen ganz ausgezeichnet.

Außerdem besitzt sie ein Gespür für passende Rollenbesetzungen. Riccardo Scamarcio (der Ex-Partner von Golino) und Valerio Mastandrea verleihen Matteo und Ettore eine rohe Präsenz und sie schaffen es, auf nachhaltige Weise die Gefühle ihrer Figuren offen zu legen. Im Gegensatz dazu verblassen die weiblichen Charaktere leider. Ettores Frau und Liebhaberin sowie Matteos beste Freundin: Sie alle treten im Film häufiger auf, jedoch verkommen sie mit ihren floskelhaften Äußerungen und vorhersehbaren Verhaltensweisen zu schablonenhaften Figuren und reiner Staffage.

Die Themen Tod und Vergänglichkeit sind aufgrund des sich zunehmend verschlechternden Gesundheitszustandes von Ettore vor allem in den letzten beiden Dritteln allgegenwärtig. Eines der großen Rätsel des Films aber bleibt, wieso sich alle Personen aus seinem Umfeld dazu entschließen, ihm nicht die Wahrheit über seine Krankheit mitzuteilen – einschließlich seiner Ärzte. Vor allem Matteo (er kennt die wahre Diagnose) belügt Ettore  immer wieder und gibt vor, dass dieser lediglich an einer harmlosen Zyste erkrankt und bald alles wieder gut sei. Zwei Aspekte sind hier unglaubwürdig: Einerseits die konsequente, beharrliche Weigerung Matteos, Ettore gegenüber fair und ehrlich zu sein. Und andererseits die Naivität und Blauäugigkeit Ettores, nicht entschiedener nachzuhaken und sich mit den Verharmlosungen seiner Mitmenschen unreflektiert abzufinden.

Björn Schneider