Exil

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„Wir schaffen das!“ sagte Angela Merkel 2015 und hatte dabei die Rechnung vielleicht ohne das Volk gemacht. Immer mehr Migranten, Flüchtlinge, irgendwie „Fremde“ fühlen sich in Deutschland inzwischen nicht mehr ganz so wohl; mit Recht? Um diese Fragen kreist Visar Morinas großartiger Film „Exil“ in dem Mišel Matičević einen eigentlich perfekt integrierten Kosovo-Albaner spielt, der plötzlich an allem zweifelt.

Website: www.alamodefilm.de

Deutschland 2020
Regie & Buch: Visar Morina
Darsteller: Mišel Matičević, Sandra Hüller, Rainer Bock, Thomas Mraz, Flonja Kodheli, Victoria Trauttmansdorff
Länge: 121 Minuten
Verleih: Alamode Film / Filmagentinnen
Kinostart: 20.8.2020

FILMKRITIK:

Am Anfang hängt eine tote Ratte am Zaun des Reihenhauses in der gesichtslosen, sehr deutschen Vorstadtsiedlung, in der Xhafer (Mišel Matičević) wohnt. Aus dem Kosovo stammt er, arbeitet bei einem Pharmaunternehmen, ist mit Nora (Sandra Hüller) verheiratet und hat drei Kinder. Auf den ersten Blick könnte Xhafer nicht besser integriert sein, doch das Gefühl, irgendwie nicht richtig dazuzugehören nagt an ihm.

Die E-Mail zu einer Verlegung der wichtigen Versammlung in seiner Firma hat er nicht bekommen. Ein Versehen, ein leicht erklärbarer Computerfehler? Vielleicht. Ein Kollege verlangt plötzlich Einsicht in Untersuchungsergebnisse. Reine Routine? Wer weiß. Spätestens wenn plötzlich der Kinderwagen vor dem Reihenhaus in Flammen steht, scheint klar: Jemand hat es auf Xhafer abgesehen.

Immer dichter wird das Gefühl der Verfolgung, immer realer die Paranoia. Immer wieder tigert Xhafer durch die Gänge seiner Firma, die Kamera ganz dicht an ihm dran, so dicht, dass sein verschwitzter Nacken sichtbar wird. Niemand glaubt ihm, sein Büro-Kollege nicht, aber auch Nora nicht. Eine „ach so benachteiligte Seele“ nennt sie ihn, er wirft ihr vor, nicht zu verstehen wie das ist, ein Fremder zu sein.

Immer misstrauischer wird Xhafer, gegenüber allem und jedem. Keinen Satz kann er hinnehmen, ohne ihn zu hinterfragen, ohne eine versteckte Absicht zu vermuten. Zunehmend gerät sein Leben aus den Fugen, drohen alle Gewissheiten des bürgerlichen Lebens in einer deutschen Reihenhaussiedlung in Frage gestellt zu sein.

Auch Visar Morina stammt aus dem Kosovo, lebt seit er 15 war in Deutschland und hat nun seinen zweiten Film gedreht. Manches, von dem er erzählt, wird er selbst erlebt haben, das Gefühl, nie so ganz dazuzugehören, irgendwie doch ein Fremder zu sein. Prägnante Szenen hat er aus dieser Erfahrung geformt. Bei einer Begrüßungsrunde stellen sich Xhafer und seine Kollegen vor. Während ein Manfred oder eine Sabine nicht auffallen, wird bei Xhafer Kryeziu stets nachgefragt: „Wie war das? Ach, wo kommen Sie her?“ Nicht böse gemeint, aber auf Dauer unweigerlich eine zermürbende Frage.

Fast wie in einem der klassischen Paranoia-Thriller aus den 70er Jahren hält Morina die Frage offen, was Wirklichkeit und was Einbildung ist, ob Xhafer tatsächlich von jemandem in seiner Firma oder außerhalb gemobbt wird oder ob er doch nur Opfer seiner Einbildung ist. Die Antwort auf diese Frage ist am Ende egal, denn das Gefühl, trotz allem nicht ganz Teil der deutschen Gesellschaft zu sein, ist für allzu viele Migranten, egal ob sie erst seit kurzem oder schon seit Jahren in Deutschland leben, wohl real.

Mišel Matičević, in Berlin geboren, im deutschen Kino und Fernsehen dennoch meist als nicht ganz koscherer Typ aus Ex-Jugoslavien oder irgendeinem anderen Ostblock-Staat besetzt – in den Augen vieler Menschen ist das ja alles irgendwie das Gleiche – überzeugt als Xhafer wie selten. Sonst meist lässig, cool und souverän ist er hier das Gegenteil. Mit bemühter Selbstbeherrschung versucht er dem gefühlten Mobbing auf den Grund zu gehen, zweifelt an sich, seiner Wahrnehmung, seinem Urteilsvermögen. Am Ende ist er ganz allein, irgendwie Teil der Gesellschaft, aber doch nicht richtig. Eine unangenehme Wahrheit zeigt Visar Morina in „Exil“, hält der Lüge vom ach so liberalen Deutschland den Spiegel vor, einer Gesellschaft, die sich gerne einbildet, offen zu sein, deren Vorurteile gegen das unbestimmte Fremde jedoch viel zu oft zum Vorschein kommt.

Michael Meyns