Film Socialisme

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Nach gut zwei Jahrzehnten erlebt endlich wieder ein Film von Jean-Luc Godard einen regulären Start in den deutschen Kinos. Mit gewöhnlichem, narrativem Kino hat „Film Socialisme“ allerdings nichts zu tun. Es ist weniger ein Film als eine Meditation über Europa und seine Geschichte, eine bisweilen wunderbar fotografierte, elegische Bestandsaufnahme unserer Zeit, der Mythen, die sie bestimmt, ihres intellektuellen, moralischen Verfalls. Ein großes Alterswerk eines der bedeutendsten Regisseure der Filmgeschichte.

Webseite: www.filmwelt.de

Frankreich 2010
Regie, Buch: Jean-Luc Godard
Darsteller: Catherine Tanvier, Christian Sinniger, Jean Marc Stehle, Patti Smith, Robert Maloubier
Länge: 101 Minuten
Verleih: 29. September 2011
Kinostart: NFP/ Filmwelt

PRESSESTIMMEN:

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FILMKRITIK:

Seit Jahrzehnten verfolgt der inzwischen 80jährige Jean-Luc Godard seine ganz persönliche Sicht aufs Kino, seit langem frei von all den üblichen Produktions- und Distributionszwängen oder vielleicht sollte man eher sagen: diese ignorierend. Seit Godard Ende der 70er Jahre die damals noch neue Videotechnik entdeckte und begann, sich in seinem Haus in der Schweiz ein autarkes Filmstudio einzurichten, werden seine Filme, Dokumentationen, Essays immer eigensinniger, entfernen sie sich zunehmend von dem, was normalerweise im Kino zu sehen ist. Dass sein Publikum immer kleiner wird, er - wenn überhaupt - dann meist als etwas wunderlicher Herr betrachtet wird, der sich in immer enigmatischer werdenden Überlegungen verrennt, kümmert Godard augenscheinlich kein bisschen. Und auch banale Dinge wie Urheberrechte interessieren ihn offensichtlich wenig, was die Veröffentlichung seiner Werke so schwierig macht. Denn zunehmend bestehen diese zu einem nicht unerheblichen Teil aus Versatzstücken der Kunstgeschichte, aus Bildern, Filmclips, Ausschnitten aus klassischer Musik, Zitaten aus philosophischen und historischen Werken. Die Zuordnung bleibt dabei dem Spürsinn und der Bildung des Betrachters überlassen, mehr als eine kurze Auflistung der Autoren gönnt Godard dem Zuschauer nicht.

So beginnt „Film Socialisme“ (nach einer kurzen Einstellung von zwei Papageien, die man sicherlich als selbstironischen Kommentar verstehen kann) mit Tafeln voller Namen: Benjamin, Derrida, Arendt, Sartre, Shakespeare, Heidegger, Goethe um nur einige zu nennen werden unter Textos aufgelistet, gefolgt von Videos (vom russischen Stummfilm über den italienischen Neorealismus bis zu einigen wenigen zeitgenössischen Werken von Angelopoulos und Varda) und Audios (Brahms, Beethoven, aber auch Joan Baez). Und so eklektizistisch geht es weiter. Der erste Teil des Films mit dem Titel „Dinge“ spielt auf einem Kreuzfahrtschiff, das Stationen am Mittelmeer besucht. Wobei spielen schon zu viel gesagt ist. In unterschiedlichster Bildqualität – von hochauflösendem Digital bis zu rohen Aufnahmen, die wie mit dem Handy gedreht wirken – setzt Godard dokumentarische Szenen neben fiktive Momente, die all die Themen anreißen, die Godard seit Jahren beschäftigen: Die Geschichte Europas, besonders die Rolle des Zweiten Weltkriegs, das Verhältnis von Film zu Video bzw. das der Bilder zur Realität, die Unterdrückung der Palästinenser und damit einhergehend die Rolle Israels, das Verhältnis von Bürgertum zur Arbeiterschaft und vieles andere mehr.

Nun beschäftigt sich Godard mit diesen Themen nicht auf direkte Weise, sondern spinnt aus all den Bildern und Tönen, all den historischen Aufnahmen und fiktiven Szenen mit Hilfe von Texteinblendungen und diversen Voice Overs ein enorm komplexes Geflecht europäischer Sozial- und Kulturgeschichte. In Godards assoziativem Denken verbinden sich so Ägypten, Palästina, Neapel und Odessa, werden Bezüge zwischen Kamikaze-Fliegern des Zweiten Weltkriegs und palästinensischen Selbstmordattentätern gezogen oder der Goldhandel des Sudans mit der Golden League der Leichtathleten verglichen.
Das ist meist mehr, mal auch weniger zwingend, besonders im zweiten, „Unser Europa“ genannten Teil, der in Südfrankreich an einer Garage spielt, die unweigerlich Erinnerungen an zahlreiche frühere Godard Filme hervorruft.

Stets präsent ist jedoch der elegische Ton, der trotz all der Verspieltheit der frühen Filme wie „Außer Atem“, schon immer Teil des Werks Godards war. Besonders wenn im kurzen dritten Segment „Unsere Geisteswissenschaften“ Bilder von all den Kriegen, all der Zerstörung gezeigt werden, die Europa in den letzten Jahrzehnten erleiden musste, kommt die zunehmende Verzweiflung Godards angesichts des kulturellen, sozialen und moralischen Verfalls der kapitalistischen Gesellschaften deutlich zum Tragen. Das Ende des Kinos hat Godard schon lange beklagt, seit dem Ende der Sowjetunion steht neben ihm das Ende des Experiments Sozialismus, für das sich Godard stets eingesetzt hat. „Film Socialisme“ eben, die zwei Dinge, mit denen Godard die Hoffnung auf Veränderung verband. Eine Hoffnung, die zunehmend enttäuscht wurde und in diesem Film – in seinem womöglich letzten langen Film – noch einmal betrauert werden. Ganz konsequent endet der Film dann auch abrupt mit den eingeblendeten Worten: No Comment.

Michael Meyns

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