For the Time Being

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Was macht es mit den Angehörigen, wenn einer ihrer Lieben im Gefängnis ist – und zwar nicht für etwas, das er getan hat, sondern für etwas, für das er schuldlos verurteilt wurde? Dieser Frage geht Nele Dehnenkamp in ihrem Dokumentarfilm „For the Time Being“ nach, an dem sie etwa ein Jahrzehnt gearbeitet hat. Immer mit dem Blick auf eine Familie und ihren Kampf für die Freiheit des Mannes und Vaters

Webseite: https://across-nations.de/projekte/for-the-time-being/

Deutschland 2023
Regie: Nele Dehnenkamp
Buch: Nele Dehnenkamp

Länge: 90 Minuten
Verleih: Across Nations Filmverleih
Kinostart: 18. April 2024

FILMKRITIK:

Es ist ein Gefängnisraum, in dem Michelle heiratet – ihren Jugendfreund Jermaine. Der verbüßt im Hochsicherheitsgefängnis Sing Sing in der Nähe von New York eine 22-jährige Haftstrafe wegen Mordes. Er hat aber immer seine Unschuld beteuert. Michelle träumt von einem gemeinsamen Leben, ihr bleiben aber nur kurze Telefonate, Briefe und seltene Besuche im Gefängnis. Ein idyllisches Familienleben, wie jeder es sich vorstellt, gibt es für ihre Familie nicht. Aber sie hat nie aufgegeben, an Jermaine zu glauben und für seine Freiheit zu kämpfen. Hoffnung kommt auf, als ein neues Beweisstück entdeckt wird.

Dokumentationen über die Zustände in amerikanischen Gefängnissen gibt es einige. Auch solche, die sich mit dem Kampf um die Freiheit zu Unrecht Verurteilter befassen. Aber der Fokus liegt hier immer auf den Männern hinter Gittern bzw. den Anwälten, die sich um ihre Freilassung bemühen. Die Autorin und Regisseurin Nele Dehnenkamp wählte jedoch einen anderen Ansatz. Sie interessierte sich dafür, was es mit den Angehörigen macht, wenn der Vater und Ehemann im Gefängnis sitzt und die Hoffnung, jemals ein normales Familienleben führen zu können, mehr und mehr schwindet.

Über eine Dekade hinweg hat sie das Leben von Michelle und ihren Kindern Paul und Kaylea verfolgt, zeigt sie in ihrem Leben, mit ihren Hoffnungen, in den Momenten, in denen diese schwindet. Die Zeit vergeht, und das ist das eigentlich Bedrückende an „For the Time Being“. Denn je länger es sich zieht, desto weniger ist das Familienidyll, das sich Michelle wünscht, noch realisierbar. Die Jahre, die vergangen sind, sind Jahre, die niemals zurückkommen. Auch wenn Jermaine freikommt, wird nichts sein, wie es war, oder wie es hätte sein sollen. Der Film ist darum auch eine Anklage an das amerikanische Justizsystem, das Schwarze regelmäßig benachteiligt. Obwohl sie eine Minderheit in der Bevölkerung darstellen, sind sie eine Majorität hinter Gittern. Es ist systemischer Rassismus, der hier am Werk ist.

Und dem fallen eben nicht nur Schuldige, sondern auch Unschuldige zum Opfer. Das zeigt Dehnenkamp auf, ohne das System direkt anzugreifen. Es geschieht durch die Worte und Taten von Michelle und ihrer Familie. Michelle erklärt, dass es reicht, dass man einer Straftat bezichtigt wird – und man wird für (fast) immer weggeschlossen. Fragwürdige Zeugenaussagen, nichtige Beweise – am Ende zählt auch und besonders die Hautfarbe.

„For the Time Being“ ist eine eindrucksvolle, zum Nachdenken anregende Dokumentation, die die Passion der Regisseurin spüren lässt, die sich über Jahre hinweg diesem Projekt verschrieben hat.

 

Peter Osteried