Formen moderner Erschöpfung

Ein Ort, der Einsamkeit, seelisches Ungleichgewicht und Heilungsprozesse zugleich spiegelt: „Formen moderner Erschöpfung“ entführt in ein altes Sanatorium. Die Anstalt ist eine der letzten ihrer Art, seit mehr als einem Jahrhundert kommen Menschen hier her, die auf Genesung hoffen. Wie die beiden Hauptfiguren, die seelisch und körperlich leiden. Das entschleunigte, eigenwillige Drama lebt von einer gewissen formalen Strenge und scheut auch Leerlauf und Redundanzen nicht. Im Schnitt und der Kameraarbeit akkurat, konsequent durchkomponiert, erkundet der kluge Film die Gründe für die mentale und körperliche Erschöpfung der Menschen – damals wie heute.

 

Über den Film

Originaltitel

Formen moderner Erschöpfung

Deutscher Titel

Formen moderner Erschöpfung

Produktionsland

DEU

Filmdauer

118 min

Produktionsjahr

2024

Regisseur

Hilpert, Sascha

Verleih

Real Fiction

Starttermin

13.11.2025

 

Nina (Birgit Unterweger) und Henri (Rafael Stachowiak) begeben sich zur Therapie in ein niedersächsisches Sanatorium. Sie fühlen sich depressiv, leer und kraftlos. In den langen, stillen Fluren und beim ritualisierten, streng durchstrukturierten Tagesablauf treffen sie aufeinander – im Speisesaal, bei den Anwendungen und Spaziergängen. Unterdessen erkundet eine Historikerin im Hausarchiv alte Dokumente aus der Frühzeit der Einrichtung. Vergangenheit und Gegenwart verschmelzen.

Das mitten im Harz gelegene historische Sanatorium Dr. Barner diente als Drehort für „Formen moderner Erschöpfung“. Der über 120 Jahre alte Bau, bestehend aus Gründerzeit-Villen und einem im Jugendstil errichteten Haupthaus, verströmt eine besondere Atmosphäre. Gemeinsam mit dem unmittelbar an die Anlage angrenzenden Waldgebiet macht dieser stimmungsvolle Schauplatz einen großen Reiz des Films aus. Auf visueller Ebene werden bisweilen Erinnerungen an Mystery- und Horrorfilme, die in Wellness-Einrichtungen und abgeschiedenen Psychiatrien angesiedelt sind, wach. Darunter schauerlich-alptraumhafte Werke wie „Shutter Island“ oder Gore Verbinskis „A Cure for Wellness“.

Doch von „Formen moderner Erschöpfung“ geht inhaltlich kein Grusel oder etwas Unheilvolles aus. Vielmehr verströmen die Story und ihre ausgebrannten, mental instabilen Protagonisten eine sehr vertraute Aura. Immerhin belegen Daten, dass die Zahl psychischer Erkrankungen seit Jahren wächst – ebenso wie die Anzahl der Betroffenen, die sich in stationäre Behandlung begeben. Der sich langsam aufbauende, ruhige Film handelt folglich von ganz normalen Menschen, die, wie so viele Millionen andere auch, psychosomatisch oder psychiatrisch erkrankt sind.

Opernsänger Henri kämpft mit Schwindel und Brustschmerzen, zudem wird bei ihm eine ausgeprägte Persönlichkeitsstörung diagnostiziert, die Selbstzweifel und Versagensängste mit sich bringt. Nina, vor ihrem Zusammenbruch erfolgreiche aber heillos überforderte Managerin, hat Stimmungsschwankungen und eine Panikstörung. Des Öfteren ist man als Zuschauer ganz dicht bei ihr, wenn sie einen solchen Panikschub erleidet. Die (äußerst glaubhaft gespielten) Weinkrämpfe zählen, neben den Psychologengesprächen, zu den emotional mitreißendsten Situationen im Film.

Mit Hingabe und herzzerreißender Verletzlichkeit verkörpern Birgit Unterweger und Rafael Stachowiak ihre Rollen. Zwei fragile Seelen, deren Wege sich trotz des identischen Aufenthaltsortes zu Beginn nur vereinzelt und kurz kreuzen. Meist sehen wir sie bei ihren alltäglichen Behandlungen: in der Ergo- und Psychotherapie, bei Achtsamkeitsübungen, beim Yoga.

Mitunter stellen sich bei der Aneinanderreihung dieser Therapie-Szenen leichte Anflüge von Monotonie und Redundanz ein. Zumal hier aufgrund der entschleunigten Erzählweise und des weitestgehenden Verzichts auf Musik ohnehin nicht die Gefahr einer Reizüberflutung besteht. Ebenso halten sich narrative Abwechslung und Plot-Wendungen in Grenzen. Andererseits spiegelt „Formen moderner Erschöpfung“ auf diese Weise treffend den Reha- und Psychiatriealltag wider, der nun einmal oft von den immer gleichen Abläufen und einer gepflegten Eintönigkeit geprägt ist.

Kreativ und stimmig mit der Handlung verwoben sind die Verweise auf die Geschichte des Sanatoriums, einstige berühmte Patienten (darunter der Expressionist Paul Klee) sowie historisch bedeutsame Personen der Jahrhundertwende. Einige von ihnen sind längst in Vergessenheit geraten, der Film holt sie zurück ins kollektive Gedächtnis. Dazu zählt die Feministin und Monopoly-Erfinderin Elizabeth Magie, einst eine scharfe Kritikerin des Kapitalismus und einer auf Besitztum und Gewinnorientierung ausgerichteten Ordnung. Mit der egoistischen Leistungs- und Ellenbogengesellschaft hadert letztlich auch Henri, der schon im Studium unter dem ständigen Leistungsvergleich mit den anderen litt.

 

Björn Schneider

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