Fragen Sie Dr. Ruth

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Dr. Ruth Westheimer ist Holocaust-Überlebende, war jüdische Widerstandskämpferin und gilt seit 40 Jahren als eine der weltweit bekanntesten Sexualtherapeutinnen. Regisseur Ryan White porträtiert in seiner biografischen Doku „Fragen Sie Dr. Ruth“ eine außer-gewöhnlichen Frau, die sich Zeit ihres Lebens wie wenige andere für Offenheit und Toleranz einsetzte. Die Doku lebt von ihrer schlagfertigen, eine ungemeine Lebenskraft und Energie ausstrahlenden Hauptperson. Hinzu kommt ein gelungener Mix aus Archivmaterial, Interviews, beobachtenden Szenen und Animationen.

Website: www.filmweltverleih.de

USA 2018
Regie: Ryan White
Länge: 100 Minuten
Kinostart: 27.08.2020
Verleih: Filmwelt

FILMKRITIK:

Der Weg von Dr. Ruth Westheimer zur erfolgreichen Sextherapeutin, Moderatorin und Soziologin war lang, beschwerlich und geprägt von persönlichen Schicksalsschlägen sowie tragischen Ereignissen. 1928 als Kind jüdisch-orthodoxer Eltern geboren und in Frankfurt am Main aufgewachsen, entging sie dem Nazi-Terror dank eines Kindertransports in die Schweiz nur knapp. Ihre Eltern kamen im KZ Auschwitz um. Später machte sie eine Ausbildung zur Kindergärtnerin und wurde von einer zionistischen Untergrundorganisation zur Scharf-schützin ausgebildet. Als Sexualtherapeutin machte sie sich ab 1980 einen Namen, als sie in der populären Hörfunk-Kolumne „Sexually Speaking“ Tipps und Ratschläge gab. In den folgenden Jahren wurde sie zur Kult-Figur und „Sex-Therapeutin einer ganzen Nation“. Drehbuchautor und Regisseur Ryan White widmet sich in seinem Film ihrem beruflichen und privaten Leben.

Er porträtiert eine Frau, die Sexualität in einer Zeit thematisierte, als weite Teile der amerikanischen Gesellschaft als prüde, mindestens aber gehemmt galten. Vor allem wenn es darum ging, offen über das eigene Sex- und Liebesleben und die individuellen Bedürfnisse zu sprechen. Es waren die 80er-Jahre, die Reagan-Regierung verfolgte im Land einen radikal konservativen Kurs. Fundamentalistische und neokonservative Kreise erhielten Aufwind. Es ist wichtig, dass die Doku dies unter anderen in Form von Archivbildern und Interviews in Erinnerung ruft, denn es verdeutlicht den unglaublichen Mut und die Entschlossenheit Westheimers.

Sie klärte die Menschen auf, bestärkte sie, befeuerte die Gender-Debatte und begab sich auf die Seite der gesellschaftlich Geächteten: Sie stellte sich in der Aids-Krise gegen homophobe Argumente und proklamierte, dass es so etwas wie „normal“ nicht gebe. „Wenn es sich um einvernehmliche, in der Privatsphäre des Hauses stattfindende Akte zwischen Erwachsenen handelt, ist alles normal.“ So lautete eines er bekanntesten – und wahrsten – Zitate von Ruth Westheimer.

Wunderbare Mitschnitte ihrer Radio- („Ask Dr. Ruth“) und späteren TV-Shows geben Einblicke in ihre damalige berufliche Tätigkeit. Schwarz-Weiß-Bilder und liebevoll animierte Sequenzen führen noch weiter zurück, auch in die dunkelste Zeit ihres Lebens. In die Zeit der Nazi-Diktatur, des Krieges und als sie elternlos in einem Heim aufwuchs. Als Erwachsene lebte sie in Israel und Frankreich und wanderte schließlich in die USA aus. Selbst später noch, so sagt sie, habe sie sich lange nirgends wirklich zu Hause gefühlt. Sie suchte stets nach ihrem Platz im Leben.

Darüber hinaus schlägt White den Bogen in die Gegenwart. Er beobachtet die quirlige 90-jährige Frau in ihrem Alltag (sie bewohnt seit über 50 Jahren dieselbe zwei-Zimmer-Wohnung in New York), bei Familienbesuchen und Reisen zu früheren Aufenthaltsorten. Es ist gleichsam beachtlich und wunderbar mitanzusehen, wie umtriebig, aktiv und lebensfroh diese Person ist. Vor Energie strotzend schreibt Westheimer noch heute Bücher und beehrt Talksendungen. Und wenn sie als Off-Kommentatorin immer wieder durch den Film führt, dann bleiben die ebenso klugen wie humorvollen Äußerungen („Ich habe nie Kompromisse gemacht, selbst wenn ich mich damit unbeliebt machte“) hängen. Eine auch auf den Zuschauer übergehende Freude und Ungezwungenheit.

Björn Schneider