Freistatt

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Ein fesselnder und ergreifender Film nach wahren Begebenheiten – und das steht hier für: kaum zu glauben, was für "Erziehungsmethoden" es in den 60er Jahren zum Teil noch gab. In einem norddeutschen Erziehungsheim herrschen im Jahr 1968 ungeheuerliche Zustände: Jungs im Alter zwischen 10 und Anfang 20 werden kaserniert, als billige Arbeitskräfte ausgebeutet und brutal misshandelt. Einer von ihnen ist der 14-jährige Wolfgang, den sein Stiefvater ins Heim abgeschoben hat. Marc Brummund erzählt die dramatische Geschichte von Wolfgang und seinen Leidensgenossen in extrem ausdrucksstarken Bildern. Ein echtes Kinoereignis fürs große Publikum, bereits mehrfach ausgezeichnet!

Webseite: www.freistatt-film.de

Deutschland 2015
Regie: Marc Brummund
Drehbuch: Nicole Armbruster, Marc Brummund
Darsteller: Louis Hofmann,  Alexander Held, Stephan Grossmann, Katharina Lorenz, Max Riemelt, Uwe Bohm
104 Minuten
Verleih: Edition Salzgeber, Vertrieb: Die Filmagentinnen
Kinostart: 25. Juni 2015
 

Preise/Auszeichnungen:

Emder Drehbuchpreis 2012 (Grimme-Jury)
Deutscher Drehbuchpreis 2013 (Lola in Gold)
Bayerischer Filmpreis 2014 (Bester Nachwuchsdarsteller Louis Hofmann)
Publikumspreis und Preis der Jugendjury des Filmfestivals Max-Ophüls-Preis Saarbrücken 2015

FILMKRITIK:

1968 in der norddeutschen Provinz: Wolfgang ist 14 und einer von vielen, die sich nicht anpassen wollen. Sein Stiefvater schickt ihn, gegen den Willen der Mutter, in ein so genanntes „Fürsorgeheim“ für schwer erziehbare Jugendliche – „Freistatt“, eine Institution mitten im Moor, die der Diakonie gehört und Teil der Bodelschwinghschen Anstalten Bethel ist. Der erste positive Eindruck, den Wolfgang beim Empfang durch den rustikal freundlichen Hausvater Brockmann erhält, ist schnell vergangen, denn der angebliche Ausbildungsbetrieb ist nichts anderes als ein Arbeitslager mit militärischem Drill, wo die Jungs unter unmenschlichen Bedingungen Torf stechen. Die einzige Erziehung, die sie hier erfahren, ist die zum Kadavergehorsam. Bei geringfügigen Vergehen drohen öffentliche Demütigungen, Prügel bis zur Folter und andere drakonische Strafen, unter anderem Essensentzug für alle. Mit seinem Gerechtigkeitssinn und seinem unbeirrbaren Widerstand macht sich Wolfgang sofort bei den Autoritäten unbeliebt, die „Bruder“ genannt werden müssen, aber auch bei seinen Leidensgenossen. Nur Anton hält zu Wolfgang, der sich nicht unterkriegen lässt, weder von sadistischen Aufsehern noch von anderen Zöglingen, die sich der Hierarchie gebeugt haben und entweder genauso gewalttätig geworden sind wie ihre Peiniger oder die Klappe halten, um nicht aufzufallen. Noch immer hofft Wolfgang, dass seine Mutter ihn – wie versprochen – nach Hause zurückholt, aber die Zeit vergeht, und Wolfgang denkt an Flucht. Er will kein Duckmäuser werden wie die anderen.
 
Marc Brummund kann Kino. Der Regisseur hat bisher schon zahlreiche Preise für seine Dokus und Kurzfilmen erhalten. Hinzu kommen Erfahrungen mit Imageclips und Fernseharbeiten für TV-Serien. Hier ist nun sein Kinodebüt, und Marc Brummund erweist sich als Künstler, der sein Handwerk versteht und genau weiß, wie er das Publikum erreichen kann. Seine Ausdruckskraft ist enorm - er findet Bilder, wo ein einziges Wort schon geschwätzig wäre. Weiche Farben, darauf abgestimmtes Licht, dazu als Musik die Mischung aus getragenen Cello- und Pianotönen zusammen mit Popklassikern und nicht zuletzt ein großartiger Filmschnitt durch den viel zu früh verstorbenen Hans Funck schaffen eine unvergleichliche Stimmung von Spannung, Mitgefühl und Wut. Die sparsamen Dialoge sind passgenau auf die Charaktere abgestimmt: Da sitzt jedes Wort. Die düster melancholische Atmosphäre der Anstalt zusammen mit der urwüchsig schönen Landschaft verbindet Marc Brummund in seiner dramatischen Geschichte zu einem Gesamtkunstwerk voll visueller Kraft. Ganz ohne Zweifel kann dieser Film mit den großen Gefängnisdramen mithalten, aber auch mit Filmkunstklassikern à la Truffauts „Sie küssten und sie schlugen ihn“ oder „Die unbarmherzigen Schwestern“, von denen Marc Brummund selbst sagt, dass sie ihn beeinflusst haben. Gut so! Als Norddeutscher hat Brummund das richtige Feeling für die Landschaft mit ihrem ganz eigenartigen Reiz, aber auch ein gutes Gespür für die Menschen, die hier leben. Er zeigt vielschichtige Charaktere: einen überforderten, eifersüchtigen Stiefvater (Uwe Bohm), den nach außen gütigen Hausvater Brockmann (Alexander Held), der nichts weiter ist als ein schleimiger Opportunist; den sanftmütigen Bruder Knapp (Max Riemelt), für dessen ambivalentes Verhalten eine überraschende Erklärung auftaucht. Sogar der sadistische Bruder Wilde (Stephan Grossmann) ist kein eindimensionaler Bösewicht. Dabei verzichtet das Drehbuch von Marc Brummund und Nicole Armbruster dankenswerterweise komplett auf langatmige Erklärungen und besserwisserische Schuldzuweisungen. Stattdessen wird ganz klassisch eine sehr gute Geschichte erzählt. So ist ein sehr intensiver Film über Machtmissbrauch, fehlgeleitete Erziehungsmaßnahmen und Widerstand entstanden.
 
Die Darsteller sind großartig ausgewählt: Max Riemelt (Bruder Krapp) ist ein schauspielerisches Phänomen in seiner unauffälligen, aber dennoch aufmerksamen Präsenz. Präzise bis ins Detail spielt er den scheinbar gutmütigen und empathischen Aufseher, der meist vergeblich versucht, die Jungs zu schützen. Alexander Held gibt dem Hausvater Brockmann eine gewisse norddeutsche Grundgemütlichkeit, die schnell von Autoritätswahn überlagert werden kann. Sein ausführendes Organ ist dabei der sadistische Bruder Wilde, wuchtig gespielt von Stephan Grossmann, der hier einmal mehr seine Vielseitigkeit unter Beweis stellt. Was der junge Louis Hoffmann als Wolfgang zeigt, ist außergewöhnlich: Er spielt sehr überzeugend, ganz unpathetisch und trotzdem zu Herzen gehend: trotzig und verletzlich, ein Junge, der an das Gute glaubt und an die Gerechtigkeit und dafür bereit wäre zu sterben. Noch lieber würde er allerdings am Leben bleiben und mit der Tochter von Hausvater Brockmann rumknutschen. Louis Hoffmann schafft es, den Zeitgeist von 1968 in einer einzigen Figur zu vereinen. Für einen so jungen Schauspieler ist das eine unglaubliche Leistung, die vollkommen zu Recht mit dem Bayrischen Filmpreis für den besten Nachwuchsdarsteller honoriert wurde.
 
Was den außergewöhnlichen Film noch außergewöhnlicher macht, ist neben seinem klug recherchierten realen Hintergrund der Umstand, dass die Leitung der Diakonie Freistatt das Filmprojekt von Anfang an unterstützt hat. So konnten die Aufnahmen zum großen Teil an den erhaltenen Originalschauplätzen entstehen. Die authentische Wirkung ist enorm – die Bilder der schönen, melancholischen Landschaft rund um die beängstigenden Gitterfenster des Heims werden bleiben.
 
Gaby Sikorski