Wann ist man ein echter Mann? Die Frage treibt den neunjährigen Franz um. Denn der ist für sein Alter zu klein, wegen seiner blonden Locken halten ihn viele für ein Mädchen und wenn er sich aufregt, wird seine Stimme ganz piepsig. Als er den Influencer Hank im Internet entdeckt, der zeigt was einen wirklichen Kerl ausmacht, glaubt er die Lösung gefunden zu haben. Christine Nöstlingers legendärer Kinderbuchklassiker bekommt nun endlich seine verdiente, moderne Kinoadaption. Denn nicht nur Mobbing ist in der stimmigen Inszenierung von Regisseur Johannes Schmid („Blöde Mütze“) ein Thema, sondern auch der Umgang mit hartnäckigen Geschlechterklischees und verkrusteten Rollenverständnis. Gelungene Kinounterhaltung mit Humor und Tiefgang. Unterstützt von einer brillanten östereichischen Schauspielerriege, angefangen von dem Newcomer Joss Jantschisch über Simon Schwarz bis hin zu Ursula Strauss, ein schauspielerndes Naturereignis.
Website: www.wildbunch.de
Deutschland, Österreich 2022
Regie: Johannes Schmid
Drehbuch: Sarah Wassermair
Kamera: Matthias Grunsky
Schnitt: Karin Hammer
Darsteller: Joss Jantschisch, Nora Weidinger, Leo Wacha, Ursula Strauss, Simon Schwarz, Julia Edtmeier, Maria Bill, Philipp Dornauer, Rainer Egger, Brigitte Kren, Deniz Cooper, Elisabeth Wasserscheid, Laurenz Haider, Arwen Hollweg.
Länge: 78 Minuten
Verleih: Wild Bunch Germany
Kinostart: 14. April 2022
FILMKRITIK:
Franz hat es nicht leicht. Als der ewig Kleinste in der Klasse, kämpft der Neunjährige nicht nur mit seiner unberechenbaren Pieps-Stimme. Nein, er wird wegen seiner blonden Locken auch noch für ein Mädchen gehalten. Das fängt schon auf dem Schulweg an, wenn er mit seiner besten Freundin Gabi (Nora Weidinger) unterwegs ist. Und endet vor der Haustür, als ihn Nachbarjungs hänseln. Doch diesmal greift er entschlossen zu drastischen Mitteln.
Er lässt einfach seine Hose herunter. Dass ausgerechnet in dem Moment die von den Kindern gefürchtete Frau Berger (Maria Bill), der kontrollierende Hausschreck, daher kommt, macht die Sache nicht besser. Sofort schreit sie nach seinem Vater (Simon Schwarz). Der jedoch ist Gott sei Dank auf seiner Seite. In der Schule hilft ihm das aber wenig. Denn die in der Klasse mobben ihn. Besonders die Clique um die Klassenqueen Elfi (Arwen Hollweg). Kopfzerbrechen bereitet ihm vor allem sein Malheur mit dem total nassen Schulheft, das ihm ins Wasser gefallen ist. Wie soll er das mit seiner Piepsstimme seinem Lehrer Zick Zack (Rainer Egger) klarmachen. Ohne, dass die Klasse wieder in Gelächter ausbricht.
Als er freilich im Internet das 10-Schritte-Programm von Influencer Hank Haberer (Philipp Dornauer) entdeckt, scheint die Lösung gefunden: Man muss nur trainiert sein, weniger lieb, sein Ding durchziehen und schon wird man ein echter Kerl. Seine zwei besten Freunde, die Gabi und der Eberhard (Leo Wacha) sind zunächst skeptisch. Aber sie unterstützen ihn tatkräftig und schleichen sich zusammen ins nächste Fitness-Studio, vorbei am tätowierten Muskelpaket am Eingang.
Und auch die Keller-Mutprobe besteht der Franz, ausgestattet mit Helm und Seil. Sein großer Bruder hänselt ihn trotzdem. Der möchte zumindest einen richtigen Mann im Haus. Denn in seinen Augen ist der Vater als Hausmann kein Vorbild. Das Geld bringt die patente Mutter (Ursula Strauss) nach hause. Wie der Franz auf dem steinigen Weg zum anerkannten Mann-Sein bei einer weiteren Mutprobe mit der Klassenqueen Elfi verraten wird und beinahe seine beste Freundin Gabi verliert ist für Kinder als auch Erwachsene eine erhellende und spannende Geschichte.
Regisseur Johannes Schmid feierte sein Regiedebüt mit dem mehrfach preisgekrönten Jugendfilm „Blöde Mütze!“ Für seinen zweiten Kinofilm „Wintertochter“ erhielt der Niederbayer den Deutschen Filmpreis für den „Besten Kinderfilm“. Kein Wunder, dass es ihm gelingt, Christine Nöstlingers Kultfigur erfrischend modern zu inszenieren. Natürlich und unprätentiös erzählt und gespielt besticht seine Kinderbuch-Adaption. Freilich lag das sicher nicht zuletzt am stimmigen Drehbuch der versierten Autorin Sarah Wassermair.
Christine Nöstlinger wusste, was Kindern gefällt. Es bereitete ihr Freude, sprachliche und thematische Tabus zu durchbrechen. In ihren Büchern ist die Welt nicht heil und harmlos, und Eltern haben nicht immer recht. Das machte die Autorin in den 1970ern zu einer Vorreiterin. Denn für die 68er-Generation waren die Kinderbücher wie Steine zum Bau einer neuen Gesellschaft. Und schnell wurde Nöstlinger zur Galionsfigur einer neuen Kinderliteratur: aufmüpfig statt betulich, wild statt brav, ohne moralinsauren Zeigefinger. Sie begegnete Kindern auf Augenhöhe und traute ihnen mehr Vernunft zu als manchen Erwachsenen.
Bereits in den 1970er Jahren wurden die ersten Geschichten verfilmt, so „Wir pfeifen auf den Gurkenkönig“ von Autorenfilmer Hark Bohm. Für blöd dürfe man die jungen Menschen weder halten noch verkaufen, so ihr Credo. Dass man in Texte für Erwachsene nie so „reinpfuschen“ würde wie in Kinderliteratur, sah Nöstlinger als Bestätigung dafür, dass Jugendbücher für die meisten nicht mehr seien als „Pädagogikpillen, gewickelt in buntes Geschichterlpapier“. Nicht umsonst erhielt sie den Astrid-Lindgren-Gedächtnispreis, eine Art Nobelpreis ihres Metiers.
Am Ende ihres Lebens wollte sie jedoch nicht mehr schreiben. Neben dem Alter begründete sie das damit, dass sie die Lebenswelt der heutigen Kinder wegen Internet und Smartphones nicht mehr verstehe. Sicher wäre sie mit der Jetzt-Zeit-Verfilmung ihres Klassikers mehr als einverstanden. Denn so verändert haben sich die Dinge am Ende doch nicht. Immer noch geht es um Freundschaft, Liebe und Respekt und auch an den Rollenbildern darf noch gearbeitet werden. Christine Nöstliner selbst begann mit dem Schreiben, weil ihr das Hausfrauendasein zu langweilig war.
Luitgard Koch