Girl

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Bei den diesjährigen Filmfestspielen von Cannes erhielt das Coming-of-Age-Drama „Girl“ viel Lob und mehrere Filmpreise, darunter die Caméra d'Or für das beste Erstlingswerk. Zum einen liegt die viele Aufmerksamkeit für das Langfilmdebüt des flämischen Filmemachers Lukas Dhont sicher am gesellschaftspolitischen Kontext, denn das Drama stellt das Seelenleben einer jungen Transperson in den Fokus. Der Film überzeugt aber nicht nur durch Empathie für eine Minderheit, sondern vor allem als sanft und still inszeniertes Porträt mit einem herausragenden Ensemble und einem feinen Blick für Details.

Webseite: www.universumfilm.de

Belgien, Niederlande 2018
Regie: Lukas Dhont
Drehbuch: Lukas Dhont, Angelo Tijssens
Darsteller/innen: Victor Polster, Arieh Worthalter, Oliver Bodart, Katelijne Damen, Valentijn Dhaenens, Alexia Depicker, Tijmen Govaerts, Nele Hardiman
Laufzeit: 105 Min.
Verleih: Universum Film / DCM
Kinostart: 18. Oktober 2018

FILMKRITIK:

Äußerlich sieht die 15-jährige Lara (Victor Polster) wie ein Mädchen aus. Doch unter ihrer Kleidung versteckt die Teenagerin einen Penis, der sie permanent daran erinnert, dass sie in einem männlichen Körper geboren wurde. An der Schwelle zum Erwachsenwerden sehnt sich Lara nach einer geschlechtsanpassenden Operation und will zugleich als Ballerina reüssieren. Zwei Ziele, die nicht leicht miteinander zu vereinen sind. Laras alleinerziehender Vater Mathias (Arieh Worthalter) zeigt Verständnis und zieht mit der Tochter und dem jüngerem Bruder Milo (Oliver Bodart) nach Brüssel, als Lara eine Zusage für eine angesehene Ballettschule erhält. An der Akademie steht sie als Transperson unter besonderem Druck, während Gespräche mit Medizinern und Psychologen die Operation vorbereiten.
 
Die nüchterne Form des Dramas fokussiert ganz auf das Innenleben der Hauptfigur. Die von Frank van den Eeden („Brownian Movement“) versiert geführte Handkamera und der weitgehende Verzicht auf Musik lenken den Blick auf die darstellerischen Glanzleistungen. Der Schauspieldebütant Victor Polster, im wahren Leben ein Cis-Mann, vermittelt Laras Unsicherheiten mit ihrer Identität und Körperlichkeit durch kleine Gesten, die eine hohe Glaubwürdigkeit und Intimität erzeugen.
 
Lukas Dhonts sensible Inszenierung lotet Laras vertrackte Selbstfindungsphase und ihre emotionale Daueranspannung unaufgeregt, aber emotional mitreißend aus. Lara nimmt Hormone, versteckt ihren Penis unter eng geschnürten Bandagen und tanzt sich im Einzeltraining die Füße blutig. Ihr Spießrutenlauf zur Selbstmündigkeit ist teils schmerzhaft anzusehen. Wenn die Klassenkameradinnen während der Vorstellungsrunde in der Schulklasse abstimmen, ob die neue Mitschülerin nach dem Sport die Frauenumkleide nutzen darf, wird die Beklemmung spürbar, die das Anderssein verursacht. Schon die wiederholt an Lara gerichtete Frage, ob in der Schule alles gut laufe, impliziert, dass ihre Transsexualität zu einer Außenseiterposition führt. Einen Gegenpol zur Ausgrenzung bildet Laras vertrauensvolle Beziehung zu ihrem Vater, der die Tochter aufbaut, wenn die Selbstzweifel durchbrechen.
 
Christian Horn