Glücklich wie Lazzaro

Zum Vergrößern klicken

Meisterhaft lässt die preisgekrönte Regisseurin Alice Rohrwacher mit  ihrer poetisch-sozialkritischen Fabel das neorealistische italienische Kino auferstehen. Versehen mit magischem Realismus und auf dem Hintergrund christlicher Mythologie führt ihre Hauptfigur, der junge Lazzaro, den Zuschauer voller Urvertrauen durch alte feudale und neue globale Ausbeutung der neoliberal entfesselten Industriegesellschaft samt seinem Casino-Kapitalismus. Gleichnishaft umschifft die 36jährige Italienerin mit ihrer zurückhaltenden Inszenierung, trotz Migration, Landflucht und Verstädterung, die spektakuläre Anklage der Verhältnisse. Der Kern ihrer Geschichte beruht auf einer wahren Begebenheit. Jahrelang gelang es einer italienischen Adligen aus der Zigarettenindustrie, noch Anfang der 1980er Jahre, ihre Landarbeiter in einer Art Leibeigenschaft zu halten.

Webseite: www.piffl-medien.de

Italien, Frankreich, Deutschland, Frankreich, Schweiz 2018
Regie & Drehbuch: Alice Rohrwacher
Darsteller: Adriano Tadiolo, Luca Chikovani, Tommaso Ragno, Nicoletta Braschi, Agnese Graziani, David Bennent, Alba Rohrwacher, Sergi Lopez
Länge: 125 Minuten
Verleih: Piffl Medien
Kinostart: 13.9.2018

FILMKRITIK:

Irgendwo im kargen, gebirgigen Süden Italiens lebt Lazzaro (Adriano Tardiolo). Der gutmütige, junge Knecht mit dem kindlich-staunenden Blick arbeitet, unermüdlich auf dem Landgut L’Inviolata. Ob nachts die Hühner vor dem Wolf geschützt werden müssen, die verkrüppelte Nonna ins Haus getragen werden muss, oder Tabakkisten geschleppt, immer muss Lazzaro ran. Doch den jungen Mann scheint das wenig zu erschüttern. Zusammen mit einer Sippe von Landarbeitern lebt er in Armut.
 
Denn alle zusammen schuften sie wie Leibeigene für die Zigarettenkönigin, die Marquesa Alfonsina de Luna (Nicoletta Braschi). In dem unwegsamen Gelände bauen sie für die Gräfin Tabak an. Ihr Verwalter erscheint regelmäßig und zieht sie über den Tisch. Nach seiner Rechnung steigt ihr Schuldenberg ständig. Alljährlich taucht im Sommer auch die Marquesa mit ihren Kindern auf, um nach dem Rechten zu sehen. Zusammen mit der Magd Antonia (Agnese Graziani) versucht Lazzaro ihre verstaubte Villa auf Hochglanz zu bringen. Die Zeit scheint stillzustehen.
 
Aber ausgerechnet De Lunas Sohn, der etwas überhebliche Tancredi (Luca Chikovani) , bringt das feudale Gefüge seiner Mutter ins Wanken. Er nähert sich Lazzaro und überredet ihn seine Entführung vorzutäuschen. Am Ende katapultiert er damit die ganze Sippe in die Moderne mit ihren globalen Ausbeutungsverhältnissen, ausgegrenzt im Dickicht der Städte. Und auch für den adligen Spross und seine Familie beginnt der Niedergang. Die Banken verweigern dem verarmten Adel Kredite. Auf seiner Zeitreise begegnet Lazzaro allen wieder. Auf die inzwischen erwachsene Antonia (Alba Rohrwacher) trifft er als Erste.
 
Meisterhaft lässt Regisseurin Alice Rohrwacher in ihrem poetisch-märchenhaften und zugleich krass realistischen Film das neorealistische italienische Kino auferstehen. Angefangen vom frühen, legendären Roadmovie „La Strada“ bis hin zu Bernardo Bertoluccis klassenkämpferischen  Epos „1900“ finden sich Anklänge in ihren faszinierenden, oftmals lyrischen Bildern. Wie einst Gelsomina als tragisch tapfere Gestalt ihrem Zampano folgte, so folgt Rohrwachers Held Lazzaro voller Urvertrauen Tancredi, dem Sohn der Marquese. Dabei scheint auch er, trotz allem  Unrecht,  nie die Hoffnung aufzugeben, dass die Menschlichkeit sich doch noch in Tancredi regen wird.
 
Wie in Bertoluccis imposanten, fast zeitlosen Geschichtsgemälde stammen beide aus unterschiedlichen Schichten: der Sohn der Herrschaft trifft einen Jungen aus dem Kreis der Landarbeiter. Und wenn die Kamera über die Gesichter der Geknechteten schwenkt, hofft man fast in der nächsten Minute das Protestlied „La Lega“ aus der Po-Ebene zu hören, das in „1900“ zur Demonstration gegen die Großgrundbesitzer aufrief. Eine Szene zeigt Lazzaro in der unwirtlichen Stadt bei einer Gruppe Tagelöhner. Es werden Erntehelfer für die Olivenernte gesucht. Eine Art Auktion für Arbeitssklaven beginnt: Vier Euro die Stunde.  
 
Immer weiter unterbieten sich die Arbeitssuchenden, bis der Preis auf einen Euro sinkt. Ein Hungerlohn, der nicht zum Leben reicht. Klug zeigt die 36jährige Italienerin in ihrer zurückhaltenden Inszenierung ganz unspektakulär die Auswirkungen des global-entfesselten Kapitalismus der Moderne. Die scheinbar befreiten Landarbeiter geraten vom Regen in die Traufe. Und wie in De Sicas berührenden neorealistischen Klassiker „Fahrraddiebe“ können sie sich nur in Kleinkriminalität retten. Wie bereits in ihrem vorherigen Film „Land der Wunder“ erweist sich die preisgekrönte Regisseurin erneut als absolut herausragende Stimme des italienischen Gegenwartkinos.
 
Luitgard Koch