Heimatland

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Durch eine rätselhafte Riesenwolke wird aus der Schweiz ein Krisengebiet. Die ratlose Bevölkerung sieht sich mit einer Situation konfrontiert, die sie mehr und mehr überfordert. Die Menschen sind verunsichert, sie suchen nach Schuldigen ebenso wie nach Lösungen. Sollen sie flüchten? Oder sollen sie sich einem ungewissen Schicksal ergeben? 10 Schweizer Filmschaffende haben mit bescheidenen Mitteln einen hoch politischen Episodenfilm geschaffen, der mehr ist als ein Katastrophenthriller: die spannende und ziemlich bittere Bestandsaufnahme einer Gesellschaft, die mehrheitlich auf Abgrenzung bedacht ist. Und das ist bekanntlich nicht nur in der Schweiz eine aktuelle und brisante Problematik!

Webseite: www.arsenalfilm.de

Schweiz/Deutschland 2015
Regie: Lisa Blatter, Gregor Freijan Gassmann, Benny Jaberg, Carmen Jaquier, Michael Krummenacher, Jonas Meier, Tobias Nölle, Lionel Rupp, Mike Scheiwiller
Drehbuch: Benny Jaberg, Jan Gassmann, Michael Krummenacher, Lisa Blatter, Gregor Frei, Carmen Jaquier, Tobias Nölle, Lionel Rupp, Mike Scheiwiller, Jonas Meier
Darsteller: Peter Jecklin, Dashmir Ristemi, Julia Glaus, Michèle Schaub-Jackson, Florin Schmidig, Egon Betschart, Gabriel Noah Maurer, Liana Hangartner
Künstlerische Leitung: Jan Gassmann & Michael Krummenacher
Schnitt: Kaya Inan
Länge: 99 Minuten
Verleih: Arsenal
Kinostart: 28. Juli 2016

Preise/Auszeichnungen:

Max Ophüls Preis 2016 – Preis für den gesellschaftlich relevanten Film
Zürcher Filmpreis 2015
Berner Filmpreis 2015

FILMKRITIK:

Das idyllisch friedliche Alpenpanorama täuscht: Irgendwo in den Bergen beginnt es leise zu dampfen und zu brodeln. Aus einem Bergsee steigt Nebel, der sich zur Wolke formt. Zu Anfang ist die geheimnisvolle Erscheinung nur etwas merkwürdig, doch mehr und mehr wird die rätselhafte Wolke zur Bedrohung. Sie vergrößert sich und verdunkelt den Himmel, nimmt schließlich den gesamten Luftraum über der Schweiz ein und lässt dabei keine Neigung erkennen, sich über die Grenzen auszubreiten – ein hausgemachtes Problem also, das auf das Land beschränkt ist, und es kommt noch schlimmer: Bald wird das Wasser knapp, die Stromversorgung bricht zusammen, Geschäfte werden geplündert, und die Wolke wird schwarz und schwärzer. Es droht der Untergang der Schweiz.
 
HEIMATLAND ist formal ein handwerklich gelungener Episoden- bzw. Omnibusfilm. Die einzelnen Geschichten werden zu einem großen Ganzen gefügt, dem kaum anzusehen ist, dass so viele verschiedene Autoren und Regisseure am Werk waren. Dank der tollen Arbeit im Schneideraum (Schnitt: Kaya Inan) stimmen Tempo und Timing, der recht einheitliche Look – ein bisschen melancholisch, ein bisschen düster und immer etwas wuchtig – wird geschickt von der Musik (Dominik Blumer) unterstützt. Es gibt keine Hinweise darauf, weder im Vorspann noch im Abspann, wer genau die jeweiligen Storys geschrieben und inszeniert hat. Diese Form eines Kollektivfilms ist ebenso denkwürdig und rar wie die inhaltlich klare politische Aussage, mit der die derzeitige Entwicklung in der Schweiz kommentiert wird. Noch deutlich stärker als viele Staaten der EU versucht die Schweiz, sich nach außen abzuschotten, eine Art „Käseglockenpolitik“. Der Film bezieht ganz klar Stellung gegen diese Tendenzen, lässt dabei aber auch Raum für Satire, die sich dankenswerterweise auch Nicht-Schweizern erschließt. Selbstverständlich gibt es dazu jede Menge Symbole und Gleichnisse, die zum Katastrophenthriller gehören wie der Kuss zum Liebesfilm: Die ratlosen Menschen mit dem ängstlichen Blick nach oben gehören ebenso dazu wie die wabernde Wolke und das Rehlein auf der Almwiese, das sich angesichts einer unsichtbaren Gefahr plötzlich umdreht. Das ist oft auf ironische Weise ein bisschen witzig, aber vor allem werden hier einfache filmische Mittel eingesetzt, um Wirkungstreffer zu erzielen: Insgesamt ist der Film eher düster und beklemmend und manchmal von beinahe schmerzhafter Konsequenz.
 
Die Geschichten erzählen von Menschen im Angesicht der drohenden Katastrophe und davon, wie sie mit der Situation umgehen. Da gibt es einen Taxifahrer und seinen Kunden – einen zynischen Wirtschaftsboss, der nicht ahnt, dass er bald auf die Hilfe des Taxifahrers angewiesen sein wird. Eine Polizistin kann sich nicht von ihren Erinnerungen lösen – sie ist schuld am Tod eines Flüchtlings. Eine Vorstandssekretärin funktioniert brav, zwei Jungs gehen Rechtsradikalen auf den Leim, ein Pärchen besucht Weltuntergangspartys und streitet sich über das politisch korrekte Plündern, und eine alte, einsame Frau bekommt von alldem nichts mit. Das ist manchmal etwas plakativ, aber das muss auch so sein, denn hier geht es nur auf den ersten Blick um Einzelschicksale und um die individuelle Auseinandersetzung mit einer Krise. Tatsächlich aber wird einem ganzen Land der Spiegel vorgehalten. Und weil es nichts Schlimmeres gibt, als dass Wünsche wirklich in Erfüllung gehen, ist die Schweiz am Ende genauso isoliert, wie die Bürger es haben wollten.

Gaby Sikorski