Heldin

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Als überforderte Pädagogin lieferte sie eine oscarreife Vorstellung im oscarnominierten „Das Lehrerzimmer“. Nun kommt Leonie Benesch als Krankenschwester auf die Leinwand. Wiederum eine Figur, die an ihre Grenzen geht. Abermals erstklassig gespielt. Ein Empathie-Bündel, das die Zuschauer sofort in den Bann zieht und nicht mehr loslässt. Flora ist Pflegerin aus Leidenschaft. Trotz chronischem Stress und Hektik bewahrt sie ihre Menschlichkeit – die das System längst nicht mehr vorsieht! Doch dann passiert ein fataler Fehler mit schwerwiegenden Folgen. Ein längst überfälliges, bewegendes Wertschätzungs-Monument für Pflegekräfte. Eine emotionale Adrenalinkick-Achterbahn, so spannend wie ein Thriller. Unverständlich, warum die Berlinale den Film nicht im Wettbewerb zeigt – ein Fehler, wie vor zwei Jahren mit „Das Lehrerzimmer“.

Webseite: https://tobis.de/titel/heldin

Schweiz / Deutschland 2025
Regie: Petra Volpe
Darsteller: Leonie Benesch, Sonja Riesen, Urs Bihler, Margherita Schoch, Jürg Plüss
Filmlänge: 96 Minuten
Verleih: Tobis
Kinostart: 27. Februar

Festivals: 75. Berliner Filmfestspiele „Special Gala“

FILMKRITIK:

„Ich wünsche mir so sehr, er könnte loslassen. Ziemlich egoistisch, oder?“ - „Diese Gefühle sind ganz normal.“ Oder: „Holst du noch den Magen aus Zimmer 3?“. Oder: „Ich hab die Schmerzmittel verwechselt“ - „Wir machen alle Fehler“. So klingen die Dialoge in einem Schweizer Krankenhaus.

Floria (Leonie Benesch) arbeitet als Pflegefachfrau mit Herz und Seele. Der Job verlangt ihr im ganz normalen Alltag schon alles ab. Kommen Notfälle hinzu oder ist die Schicht wieder einmal unterbesetzt, ist das Chaos perfekt. Doch selbst in Ausnahmesituationen hat die erfahrene Schwester alles souverän im Griff. Mehr noch: Floria hat ihre Menschlichkeit bewahrt, was in der Medizin-Maschinerie Krankenhaus längst nicht mehr vorgesehen ist. Für Zuwendung gibt es kein Abrechnungsmodell.

Floria versteht sich keineswegs als Florence Nightingale, die sich für Gotteslohn aufopfert. Doch auch als Pflegeprofi leistet sie sich den Luxus von Menschlichkeit. Sie tröstet den alten Mann, der verzweifelt auf seine Diagnose wartet – von der Ärztin aber vergessen wird. Eine schwer verwirrte Dame kann sie mit einem gemeinsamen Kinderlied beruhigen. Einem unheilbaren Patienten verspricht sie, sich um dessen Hund zu kümmern. Wird ihr diese Wertschätzung gedankt? Nicht selten ist das Gegenteil der Fall. Ein türkisches Trio reagiert mit Bedrohung, als dessen Mutter verstirbt. Eine mürrische Raucherin will sich die Zigarette nicht verbieten lassen. Last not least behandelt sie ein überheblicher Privatpatient wie seine persönliche Magd. All das meistert Floria souverän ohne ihren Humor zu verlieren. Auch Versäumnisse von jungen Kolleginnen bügelt sie geduldig aus. Doch dann unterläuft auch diesem Profi in der unterbesetzen Schicht ein Fehler. Und die Situation eskaliert.

Mittendrin-statt-nur-dabei lautet die Devise bei diesem Drama. Von der ersten Minute macht eine bewegte Kamera spürbar, wie aufreibend dieser Beruf ist. Ein Alltag als Achterbahn, die den Beteiligten keine Minute Ruhe gönnt. Einmal mehr erweist sich Judith Kaufmann („Das Lehrerzimmer“) als Meisterin der furiosen Bildersprache. Scheinbar schwerelos verfolgt sie die Pflegerin bei ihrem Nonstop-Marathon durch die Krankenstation, der zum chronischen Wettlauf gegen die Zeit gerät.

Gewohnt leinwandpräsent präsentiert Leonie Benesch, wie schon in „Das Lehrerzimmer“, mit psychologischer Präzision eine Heldin, die sofort zur Empathie einlädt. Die es immer gut meint mit der Welt und den Menschen. Doch widrige Umstände bringen sie an ihre Grenzen und werden zur gnadenlosen Bewährungsprobe. Der längst inflationär gebrauchte Begriff „authentisch“ ist tatsächlich angebracht. Bei dieser Schauspiel-Schwester sitzt jede Spritze, jeder Griff in den Medikamentenschrank sowie jedes Gespräch mit Patienten oder Ärzten.

Längst ist die Pflegebranche selbst zum Patienten geworden. Ein gesellschaftliches Problem, das zum Pulverfass werden könnte. In zehn Jahren, so Berechnungen, werden  rund 90 000 Pflegekräfte fehlen. Jeder fünfte Beschäftigte ist älter als 55 Jahre und wird demnächst in Rente gehen. Umso wichtiger, dass dieser Branche, in der 82 Prozent der Beschäftigten weiblich sind, dieses Kino-Denkmal gesetzt wird. Eine Liebeserklärung, die weit mehr als das Klatschen während der Corona-Pandemie ist, weil sie auch strukturelle Mängel aufzeigt. Bisweilen wirkt der Film wie die Dokumentation eines knallharten Alltags. Zugleich ist er menschliches Drama und spannend wie ein Thriller.

Am Ende fühlt man sich so mitgenommen und atemlos, als hätte man selbst diese Schicht mitgemacht. Den Titel wird man wohl allemal unterschreiben: Corona-Beifall im Kinosaal. Wie kann solch ein Meisterwerk nicht im Wettbewerb der Berlinale gezeigt werden?

 

Dieter Oßwald