Hinter guten Türen

Zum Vergrößern klicken

Filme machen, über das was man kennt wird oft geraten, eine Empfehlung, die die Schauspielerin und Sängerin Julia Beerhold in ihrer ersten Regiearbeit „Hinter guten Türen“ schmerzhaft ernst nimmt. Tief in ihrer Familiengeschichte bohrt Beerholds Dokumentarfilm und entdeckt Missbrauch und Gewalt über die Generationen hinweg. Ein sehr persönlicher, manchmal vielleicht auch zu subjektiver Film über ein oft noch viel zu sehr tabuisiertes Thema.

Deutschland 2023
Regie & Buch: Julia Beerhold
Dokumentarfilm

Länge: 79 Minuten
Verleih: mindjazz
Kinostart: 30. Mai 2024

FILMKRITIK:

Es beginnt mit verwackelten dokumentarischen Aufnahmen, Bildern von spielenden Kindern, Familienfesten, verwaschen, im alten 4:3-Format, körnig, offensichtlich aus den 70er oder 80er Jahren. Dann ein Schnitt, eine Frau fährt auf der Autobahn, eine Erzählerinnenstimme berichtet von der Rückkehr ins Familienhaus, wo der Bruder wieder einzieht, alte Kisten sollen entrümpelt werden.

Man meint sich in einem dieser modernen Dokumentarfilme zu befinden, in denen anhand von Dokumentarfilmmaterial eine Rückschau gehalten wird, von der persönlichen Familiengeschichte erzählt wird, die für den oder in diesem Fall die Regisseurin speziell, für den Zuschauer aber meist wenig erhellend ist, doch es kommt anders.

Auch die Eltern von Julia Beerhold, geboren 1970, haben ihre Kindheit und Jugend per Super8 oder Videokamera gefilmt, Material, das nun jedoch nur einen winzigen Teil eines Blicks hinter deutsche Türen ausmacht. Denn die Geschichte, die Beerhold nach und nach offenbart entwickelt sich auf überraschende, auch erschreckende Weise: Was anfangs noch wie eine zwar nicht bukolische, aber doch weitestgehend normale Erzählung einer Familie mit Vater, Mutter und zwei Kindern wirkt, die in den 70er im Ruhrgebiet leben, wird schnell zu einer Studie über Gewalt, Missbrauch und die Spuren, die sie über die Generationen hinweg hinterlassen.

Das in der Generation von Beerholds Eltern Ohrfeigen noch zu den selbstverständlichen Erziehungsmethoden gehörten überrascht nicht, doch das Maß an Gewalt, das Julia Beerhold und ihr Bruder erlebten, scheint das Maß dieser „Normalität“ weit überstiegen zu haben. Nach und nach offenbart Beerhold diese Geschichte der Gewalt und Übergriffe, die auch zu sexuellem Missbrauch führten. Wie ruhig sie dabei mit ihrem Bruder und auch der inzwischen in einem Pflegeheim lebenden Mutter – der Vater ist schon lange tot – spricht, überrascht.

Und auch mit welcher Selbstentblößung sie davon berichtet, wie sie selbst Gewalt verübte, in ihrem Fall gegenüber ihrer einst besten Freundin, die im Gespräch davon berichtet, dass die Freundschaft mit einer Ohrfeige begann.

Wie der Versuch einer dokumentarischen Psychoanalyse wirkt „Hinter guten Türen“ bisweilen, als Versuch, vor und durch die Kamera mit der eigenen Familiengeschichte, den persönlichen Erfahrungen mit erlebter und ausgeübter Gewalt zurechtzukommen. Manches mal wünschte man sich einen neutralen Beobachter hinter der Kamera, auf dem Regiestuhl, der die Ereignisse mit einer gewissen Distanz zeigt, der nicht das letzte Wort hat, sie wie es Julia Beerhold als Regisseurin bei der Bewertung ihrer eigenen und vor allem der Geschichte ihrer Familie hat. Meist gelingt es der Regisseurin jedoch der Spagat zwischen Nähe und Distanz, zwischen den Rollen als Regisseurin und Subjekt. Gerade die schonungslose Darstellung eigener Schwächen und Fehler verleiht „Hinter guten Türen“ eine besondere Authentizität und Kraft und macht den nur 79 Minuten kurzen Film zu einem berührenden Dokument über Gewalt und Missbrauch in der Familie und den Generation übergreifenden Folgen, die sie haben kann.

 

Michael Meyns