Höhere Gewalt

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Der Skiurlaub in den französischen Alpen wird für eine schwedische Familie zur Bewährungsprobe. Wo eben noch Harmonie herrschte, kehrt Misstrauen ein. Grund dafür ist das Verhalten von Familienvater Tomas angesichts eines Beinahe-Lawinenunglücks.
Mit chirurgischer Präzision und beißendem Witz entlarvt Ruben Östlund das Konstrukt der scheinbar perfekten Familie. Ein Film, nicht nur für Wintersportfans, über Männlichkeitswahn und die Suche nach der heilen Welt –  meisterlich inszeniert, großartig anzusehen, wunderbar boshaft und sehr, sehr spannend!

Webseite: www.alamode-film.de

Originaltitel: Turist
Land: Schweden/Dänemark/Frankreich/Norwegen
Regie und Buch: Ruben Östlund
Darsteller: Johannes Bah Kuhnke, Lisa Loven Kongsli, Kristofer Hivju, Clara und Vincent Wettergren
Länge: 118 Minuten
Verleih: Alamode, Vertrieb: Die Filmagentinnen
Kinostart: 20. November 2014
 

Auszeichnungen und Preise:

Jurypreis, Un certain regard, Cannes 2014

FILMKRITIK:

Eine schwedische Familie auf Skiurlaub im französischen Luxusresort: In einheitlich blauer Skiunterwäsche stehen sie vor dem riesigen Spiegel ihres schicken, durchdesignten Apartments, ein Bild der Harmonie – jedes Familienmitglied mit einer eigenen elektrischen Zahnbürste, aufeinander eingespielt wie ein gut geölter Mechanismus, perfekt als Team, perfekt als Familie. Mama Ebba, Papa Tomas und die selbstverständlich gut erzogenen Kinder Vera und Harry genießen ihren Urlaub. Dann der Schock: Während des Mittagessens droht eine Lawine die Terrasse mitsamt den darauf speisenden Gästen zu überrollen. Mutter Ebba wirft sich über ihre Kinder, und Papa Tomas … der läuft einfach weg. Alles geht gut. Als sich die Schneewolke verzogen hat, kehren die Touristen zurück an den Esstisch und speisen munter weiter, als wäre nichts geschehen. Doch irgendetwas hat sich verändert. Ebba hat Tomas‘ Flucht bemerkt – er selbst weiß gar nicht, was er im Moment des Schreckens getan hat. Vielleicht könnte alles weitergehen wie bisher, aber Ebba kann den Mund nicht halten und erzählt von nun an jedem, der es hören oder nicht hören möchte, von Tomas‘ Versagen als Mann und Familienvater. Sie kommt über dieses Erlebnis nicht hinweg, er bestreitet seine Schuld, hadert mit sich und ihr, und so lösen die beiden ihre eigene existenzielle Ehe- und Familienkrise aus. Die Kinder sehen sich schon als Scheidungsopfer, zwei unerwartet angereiste Freunde müssen als Eheberater ran, es droht der gesamtfamiliäre Kollaps.
 
Ruben Östlund ist nicht nur ein hoch talentierter Filmemacher, sondern auch ein sehr guter Menschenkenner. Er serviert dem Publikum eine scheinbar unverrückbar harmonische Familie, führt sie in eine nur Sekunden währende schwierige Situation. Bildlich gesprochen zerdeppert er das Geschirr und führt dann die liegen gebliebenen Scherben vor. Wie bei einer Zwiebel entfernt Östlund Schicht um Schicht von der perfekten Hülle, bis nur noch ein winziger Kern übrig ist: das einsame Menschlein, der demontierte Mann in seiner ganzen Verwundbarkeit. Johannes Bah Kuhnke spielt den armen Kerl, der anfangs noch ein stolzer Familienvater ist und wenig später darauf angewiesen sein wird, dass seine Frau Ebba (sehr straight und herrlich nervig: Lisa Loven Kongsil) sich seiner erbarmt. Kuhnke zeigt Tomas als freundlichen, gutwilligen Mann, keineswegs als Macho, der es dennoch seiner Frau nicht recht machen kann. Denn sie lässt nicht locker, bis er am Boden ist. Östlund zeigt sie durchaus sympathisch, sie versteht selbst nicht, was da geschehen ist und über die Familie hereinbricht.
 
Das Buch ist sehr klar strukturiert, eingeteilt in einzelne Tage; die Dialoge sind eher sparsam. Im Vordergrund steht aber die ausgefuchste Bildästhetik: Für seinen Tatort – die französischen Alpen in ihrer ganzen Pracht – wählt Östlund wunderbar kalte, grausam schöne Bilder aus der alpinen Wintersportmaschinerie: silbrig glitzernde Schneehänge, strahlend blauer Himmel, dazu das coole Ambiente der Luxushotellerie. Zur Untermalung gibt es dramatische Barockklänge, das Knirschen des Schnees, das Schurren von Skiern über die Piste oder das Knarzen der bläulich blitzenden Liften und Bahnen. Immer wieder ertönen Schüsse, mit denen kontrollierte Lawinenabgänge ausgelöst werden. Schneekanonenrohre ragen in die Luft wie die Hälse merkwürdiger Vögel, Urzeitmonstern gleich, so wie die Schneewalzen, die nach einer festgelegten Choreographie bei Nacht die Hänge präparieren. Hier scheint alles vom Menschen durchorganisiert und kontrolliert. Der Mensch triumphiert über die Technik und macht sich die Natur zu eigen. Doch diese Macht ist trügerisch, denn Ruben Östlund zeigt, dass der Mensch selbst sehr leicht zu erschüttern ist, und spielt mit den Grundfesten der menschlichen Existenz. Es geht um das, was übrig bleibt, wenn die Fassade erst einmal zerstört ist. Was hält eine Familie zusammen? Worauf gründen sich Beziehungen? Muss ein Mann seine Frau und seine Familie beschützen? Östlund spielt mit Rollenklischees. In seinem Film, so wie gelegentlich im echten Leben, ist es letztlich die Frau, die sich darüber wundert, dass sie für die Wiederherstellung des Friedens verantwortlich ist, nachdem sie den Krieg ausgelöst hat.
 
Ruben Östlund präsentiert in fantastischen Bildern ein boshaftes Familiendrama, das durch seine raffinierte Symbolik ebenso begeistert und unterhält wie mit seiner eisklaren Spannung.

Gaby Sikorski