Holunderblüte

Zum Vergrößern klicken

Volker Koepp hat seit Beginn der neunziger Jahre vier Filme im früheren Ostpreußen gedreht. Mit „Holunderblüte“ setzt er nun einen filmischen Schlusspunkt. Seine Dokumentation widmet sich Kindern, die in der Gegend Kaliningrads leben, das früher Königsberg hieß. Ein Jahr lang folgte Koepp den Kindern, die in den zerfallenden Dörfern meist sich selbst überlassen sind, aber den schwierigen Lebensumständen trotzen und gelegentlich eine rührende Lebensfreude aufblitzen lassen. Der Film lebt vom sorgsam komponierten Kontrast zwischen der realen Tristesse und der Schönheit der Landschaft sowie der kindlichen Glückseligkeit. Und er spiegelt mit seiner traurig-versonnenen Grundstimmung das Thema des Abschieds von Ostpreußen.

Webseite: www.salzgeber.de

Deutschland 2007
Regie: Volker Koepp
Buch: Barbara Frankenstein, Volker Koepp
Kamera: Thomas Plenert
Länge: 89 Minuten
Verleih: Edition Salzgeber
Kinostart: 24. Januar 2008

PRESSESTIMMEN:

...

FILMKRITIK:

Die Mädchen stehen am Strand wie die Orgelpfeifen. Hinter ihnen tost das Meer, der Wind pfeift und fährt ihnen durch die Haare. Die Mädchen lächeln, langsam zieht die Kamera an ihren Gesichtern vorbei. Ein Stillleben wie so oft bei Volker Koepp. Seine Filme werden nie nur von Menschen bevölkert, sondern von Menschen im Raum. Sie bilden eine Einheit, und bei manchen Bildern stellt man sich die Frage, was denn nun wichtiger ist, die Person oder das, was sie umgibt. Im Idealfall ergänzen sie sich zu einem Gesamtbild. Koepp kennt sich aus in der Gegend, dieser windigen Landschaft am Meer, die er als historischen Raum durchmisst. Oft hat er hier gedreht, nur noch nicht mit Kindern als Hauptfiguren. Aber auch das bekommt er mit gewohnter Präzision hin. Nie stellt sich das Gefühl ein, dass die Jungen und Mädchen posieren, selbst wenn sie gelegentlich in die Kamera blinzeln. Sie spielen wie immer, sie malen, sie tollen herum. Schön ist das und umso erschreckender, wenn dann Sätze wie Blitzschläge zucken. „Der Schnaps ist ihnen wichtiger als die eigenen Kinder“, sagt ein Mädchen über ihre Eltern. „Überall Trinker“, erzählt ein anderes Kind, ohne die wäre es schöner hier.

Die Bilder lassen keinen Zweifel. Die Dörfer in dieser russischen Exklave sind dem Verfall preisgegeben. Die alten Häuser bröseln vor sich hin, auf den Resten der Kirche nisten Störche, die Straßen sind nicht befestigt. Die Menschen wirken deplatziert in diesen Ansiedlungen, die die Natur, die in den Mauerritzen sprießt, sich langsam zurückholt. Es sieht so aus, als ob irgendwer nur vergessen hat, die Bewohner wegzubringen aus dieser Ruinenlandschaft. So bleiben sie einfach da, ohne Arbeit oft und ohne Perspektive, und viele verbringen ihre Tage im Alkoholnebel. Es ist erstaunlich, wie die Kinder mit dieser elterlichen Lethargie umgehen, wie Knirpse, die kaum laufen können, die Kühe in den Stall treiben, wie Jungen und Mädchen schwere Milcheimer schleppen. Trotzdem sieht man sie immer wieder lachen. Denn da ist noch etwas anderes. Die Weite des Himmels etwa und die Natur als grenzenloser Abenteuerspielplatz. Wenn die Kinderschar im Winter auf einer Plastikplane eine Kuppe herunterrutscht, weil sie keine Schlitten hat, und dabei von einem betörenden Nachmittagslicht beschienen wird, verschränken sich Armseligkeit und Glück zu einem melancholischen Ganzen.

Für die Bilder ist wie immer Thomas Plenert zuständig, Koepps kongenialer Kameramann. Er hat einen souveränen Blick für Bildausschnitte. Fenster und Türen sind seine Kadrierungen oder manchmal auch nur ein einfallender scharf konturierter Lichtstrahl. Und seine Landschaftsbilder wirken wie gemalt. Er wartet einfach, bis Licht und Farben, Meer und Sand sich in Harmonie vereinen. In Plenerts Bildern schimmert immer ein Glanz, selbst wenn er alltägliche Verrichtungen festhält. Die stumpfen Realitäten werden optisch überhöht in „Holunderblüte“, keine Frage. Aber so wird der emotionale Raum geschaffen, in dem die Geschehnisse und Erzählungen ihren Platz finden. Der Alltag ist grauer als belichtetes Filmmaterial, und so wollen die meisten Kinder weg aus ihrem Dorf, wenn sie groß sind. Davonfliegen wie die turmhohen Wolken, die  über ihre Köpfe ziehen.

Volker Mazassek