Ich und Du

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Bernardo Bertolucci hat ein auf den ersten Blick eher unspektakuläres Kammerspiel inszeniert. Auf den zweiten Blick erweist sich sein neuestes Werk als nachhaltig wirkende Auseinandersetzung mit dem Menschsein aus Sicht eines Vierzehnjährigen. Lorenzo ist ein offenbar ziemlich verwöhnter Junge – ein schwieriges Kind im schwierigen Alter. Statt mit seiner Schulklasse auf Skireise zu gehen, nistet er sich heimlich im Keller ein. Doch seine Ruhe wird gestört, denn plötzlich steht Olivia, seine ältere Halbschwester, vor ihm. Sie braucht dringend Hilfe, denn Olivia ist heroinsüchtig und will von der Droge loskommen. Plötzlich sieht sich Lorenzo mit einer Aufgabe konfrontiert, die ihm einiges abverlangt.

Wie Bertolucci das Thema Erwachsenwerden scheinbar minimalistisch auf die Leinwand bringt, wie er eine beinahe greifbare Spannung aufbaut, die sich aus der nüchternen Betrachtung zweier unglücklicher Kreaturen entwickelt – das ist großartig. Sicherlich ist dies kein einfacher Film, jedoch in seiner zärtlich kritischen Auseinandersetzung mit der Jugend ein hoch intelligentes Kinoerlebnis.

Webseite: www.koolfilm.de

Originaltitel: Io e Te
Italien 2012
Regie: Bernardo Bertolucci
Drehbuch: Niccolò Ammaniti, Umberto Contarello, Francesca Marciano, Bernardo Bertolucci
(nach dem Roman „IO E TE“ von Niccolò Ammaniti, deutsch „DU UND ICH“, erschienen im Piper Verlag)
Darsteller: Jacopo Olmo Antinori, Tea Falco, Sonia Bergamasco, Veronica Lazar, Tommaso Ragno, Pippo Delbono
97 Minuten
Verleih: KOOL Filmdistribution
Kinostart: 21. November 2013

PRESSESTIMMEN:

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FILMKRITIK:

Er wirkt nicht besonders sympathisch, dieser Lorenzo. Kein Wunder, denn er ist vierzehn und von der Pubertät gebeutelt, ein Einzelgänger, der zu Aggressionen neigt und sich mehr für Ameisen interessiert als für Mädchen oder Cliquen. Als eine Klassenfahrt in die Berge ansteht, bereitet er heimlich alles vor, um mit Sack und Pack und einer Ladung Lebensmittel für eine Woche in den Keller des elterlichen Hauses zu ziehen. Ein Ameisenvolk im Glaskasten ist seine einzige Gesellschaft. Kaum hat er es sich richtig gemütlich gemacht, ist die Ruhe schon vorbei, denn seine ältere Halbschwester Olivia rumpelt im Keller herum. Schon vor Jahren ist Olivia zu Hause rausgeflogen. Schließlich findet sich der Karton mit ihren Habseligkeiten. Doch der Schmuck, den sie sucht, ist nicht dabei. Lorenzo merkt schnell, dass es Olivia nicht gut geht, und er weiß nicht so recht, wie er damit umgehen soll. Sie ist erwachsen, heroinsüchtig und braucht offenbar dringend Geld, Rauschgift und ein bisschen Zuwendung, aber dann ist sie wieder störrisch und aggressiv – und ihm darin gar nicht so unähnlich. Vielleicht ist es eine Augenblicksentscheidung, jedenfalls möchte Olivia von der Droge loskommen, und Lorenzo soll ihr dabei helfen. Hier in diesem Keller, wo sie abgeschnitten sind von der Welt, geht Olivia auf Entzug. In ihren guten Momenten ist sie reizend, ein liebenswertes, fantasievolles Mädchen. Aber wenn es ihr schlecht geht, wird sie zum hilflos zuckenden Bündel und verschreckt Lorenzo mit ihrem Verhalten. Von Tag zu Tag kommt Lorenzo ein bisschen besser mit ihr und der Situation zurecht, und so ganz nebenbei lernen sich die beiden kennen.

Es passiert nicht viel in diesem Film, schon gar nichts Spektakuläres. Ihren Reiz bezieht die kleine Geschichte aus der Konfrontation der beiden Hauptpersonen, die einander auf Gedeih und Verderb ausgeliefert sind, denn Olivia erpresst Lorenzo damit, sie würde ihn verraten. Auch wenn zwischendurch Besuch im Keller auftaucht, ist die Geschichte vollkommen auf die beiden zugeschnitten. Da bieten sich natürlich Parallelen an, aber im Gegensatz zum „Letzten Tango in Paris“ geht es nicht um Sex oder zumindest nicht vordergründig. Und wenn die große Schwester mit dem kleinen Bruder tanzt, dann ist das eher als Weiterbildungsmaßnahme zu sehen. Jacopo Olmo Antinori ist Lorenzo: ein Junge ganz ohne den welpenhaften Charme, den viele Jungstars ausstrahlen. Er ist weder hübsch noch irgendwie optisch interessant, ein pubertärer, pickliger Bengel eben, aber er hat in seinem Spiel eine enorme Ausstrahlung. Es ist vor allem Verletzlichkeit, die hinter der coolen Fassade lauert. Tea Falco spielt die Olivia. Sie ist ebenfalls eher unauffällig: ein normal hübsches Mädchen. Allerdings trägt sie im Gegensatz zu Lorenzo ihre Probleme offen mit sich herum. Warum leben die beiden nicht ihr Leben? Warum ergehen sie sich in Leidensgeschichten, die von mangelndem Selbstwertgefühl und Überdruss geprägt sind? Sie haben keine Lebensentwürfe, diese beiden kleinen Menschen, die nicht wissen, wohin. Olivia als die Reifere hat zumindest ein Ziel vor Augen – Leben auf einem Bauernhof – das möglicherweise genauso trügerisch ist wie ihre Vorstellung, sie könnte erfolgreich als Fotografin arbeiten. Immerhin erkennt Lorenzo, das zornige Kind, das so einsam war mit sich, durch Olivia ein bisschen von dem, worum es im Leben gehen könnte: ums Miteinander statt ums Gegeneinander.

In ruhigen Bildern mit vielen Großaufnahmen zeigt Bertolucci die beiden verwirrten Menschenkinder, deren Leben sich durch ihr Zusammentreffen verändert. Es gibt viele sehenswerte Momente, auch der Keller an sich ist interessant, eine Art Wohn-Rumpelkammer mit Stromanschluss und (glücklicherweise) Bad. Bertolucci beobachtet, er wertet nicht. So lässt er seinen Schauspielern viel Raum für kleine Gesten, die eine authentische Atmosphäre schaffen, ohne dass der märchenhafte Reiz der kleinen Geschichte verschwindet. Am schönsten jedoch ist der Tanz der Geschwister zu „Space Oddity“ von David Bowie, mit neuem Text und in italienischer Sprache vom Meister persönlich gesungen. Hier erweist Bernardo Bertolucci, der seit einigen Jahren im Rollstuhl sitzt, nicht nur der Jugend seine Referenz, sondern auch seinem eigenen Werk: ein Abschied und ein Neubeginn. Abschied vom großen Kino und von den ganz großen extremen Gefühlen, und vielleicht der Anfang einer Phase, die von Altersweisheit und einem gewissen Hang zu einer Poesie der Sachlichkeit geprägt ist.

Gaby Sikorski

Bernardo Bertolucci ist längst Legende. Wie er die kleine, rührende Jugend-Geschichte von „Ich und Du“ inszeniert, zeigt jedoch, dass er mit all seinem Können voll im Leben steht. Ein pubertierender Junge will sich vor der Schulfahrt drücken und versteckt sich im Keller des eigenen Mietkomplexes, zufällig kommt seine ältere Stiefschwester vorbei und will ausgerechnet hier mit einem Kalten Entzug von den Drogen loskommen. David Bowies „Space Oddity“, jeweils einmal in der italienischen und der englischen Version charakterisieren die Drogenproblematik der Schwester und die Isolation des Sohnes. Das Keller-Kammerspiel entdeckt zwei junge Schauspieler, erzählt berührend feinfühlig und schenkt ein bitter-süßes Ende.

Lorenzo, ein 14-jähriger, pubertierender Junge, will sich vor der Skifreizeit drücken und versteckt sich deshalb im großen Kellerraum des eigenen Mietkomplexes. Die Mutter denkt, er ist mit der Schule weg, die Lehrer glauben, er ist krank zuhause. Zwischen alten Schränken und Kisten lässt sich leicht eine kleine Höhle bauen, ein Sofa wird zum Bett. Nur ein kleines Fensterchen lässt den Blick auf die Beine der Passanten zu. Zusätzlich baut der schüchterne Junge einen Kopfhörer-Schutzwall mit seiner Musik. So wie er sich den Menschen abschirmt, so distanziert beobachtet er auch einen Ameisenbau, den er hinter den Glasscheiben seinen Terrariums hält. Lorenzo geht es also gut in seinem Keller-Versteck, nur manchmal stört ein Hausmeister. Doch eines Nachts erschreckt ihn ein anderer Eindringling.

Seine ältere Halbschwester Olivia, die schon vor Jahren ausgezogen ist, sucht nach alten Sachen und nach einem ersten, sehr ruppigen, gegenseitigen Anfauchen beginnen die beiden, einige Familiengeschichten klären. Lorenzo und Olivia wissen kaum etwas von einander, geben sich aber gegenseitig die Schuld am Scheitern der Familie. Was bei ihr zu einer traurigen und erschreckenden Situation führte: Drogen- und vergnügungsüchtig lässt sich Olivia von einem älteren Freund aushalten und mit Koks versorgen, der gleichzeitig Vaterfigur und Zuhälter in sich trägt. Energie für ihre eigenen, eindrucksvollen Fotos bleibt ihr keine. Lorenzo muss sich plötzlich um die Schwester kümmern, steht ihr bei einem Kalten Entzug bei. Es entwickelt sich eine zärtliche Nähe in diesem intensiven Kellerkammer-Spiel. Und irgendwann zerbricht die Glaswand, Lorenzo tritt ins Freie...

„Ich und Du” ist nach 30 Jahren erstmals wieder ein italienischer Film von Bernardo Bertolucci. Der Regisseur von filmischen Meilensteinen wie „Der letzte Tango in Paris“ (1972) „1900“ (1976), „Der Letzte Kaiser“ (1987) oder „Little Bhudda“ (1993) ist längst Legende, ein alter Mann, könnte man denken. Doch „Ich und Du” ist nach dem 68er-Drama „Träumer“ (2003) und „Stealing Beauty“ (1996) wieder ein Film über das Erwachsenwerden junger Menschen. Wie Bertolucci die kleine, rührende Jugend-Geschichte inszeniert, zeigt dass er mit all seinem Können voll im Leben steht.

Ein Lied in zwei Sprachversionen war neben dem Roman „Io e te” von NiccoloÌ Ammaniti Inspirationsquelle: David Bowies „Space Oddity“, jeweils einmal in der englischen und der italienischen Version charakterisieren die Drogenproblematik der Schwester („Ground control to major Tom, your circuits dead, there's something wrong. Can you hear me, major Tom?”) und die Isolation des Sohnes („Ragazzo Solo, Ragazza Sola”).
„Ich und Du” entdeckt in seiner berührend feinfühligen Erzählung und in seinem bitter-süßen Ende auch zwei junge Schauspieler: Jacopo Olmo Antinori beeindruckt enorm als erst schüchterner und dann entschlossener Lorenzo. Dabei ist dies erstaunlicherweise erst die erste Filmrolle des 1997 geborenen und bereits theater-erfahrenen Römers. Die als Olivia so zerbrechlich wirkende Tea Falco ist ein wahres Multitalent: Als Fotografin erhielt sie den wichtigsten Preis für Gegenwartskunst in Italien, den Premio Basilio Cascella im Jahre 2011. Ihre Bilder werden weltweit ausgestellt. Dazu hat sie einen Abschluss in Kommunikations-Wissenschaften, spielte auf der Bühne und vor der Kamera. Olivia ist ihre erste Hauptrolle. So wie diese Talente eine Offenbarung auf der Leinwand darstellen, bietet der Film über eine Öffnung mehr als einen Grund, sich mal wieder in einen dunklen, geschlossenen Raum zu begeben.

Günter Jekubzik