Ihr werdet euch noch wundern

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Der vielleicht letzte Film des mittlerweile 90-jährigen Alain Resnais ist ein elegantes Drama über Liebe, Tod, über die schwankende Wahrheit der Bilder und die Ewigkeit der Sprache – ein Schauspielerfilm im besten Sinne, in dem er noch einmal seine Stars versammelt. Es gibt ein Wiedersehen mit der großen Sabine Azéma, mit der elfenhaft schönen Anne Consigny, mit Michel Piccoli, Lambert Wilson und vielen anderen.
Sie kommen zusammen als sie selbst – eine Gruppe von Schauspielern, die sich in einem Schloss versammeln, um gemeinsam den letzten Willen des Autors Antoine d’Anthac entgegenzunehmen. Gemeinsam sehen sie eine neue Inszenierung seines Stücks EURYDIKE, in dem sie vor vielen Jahren selbst mitgespielt haben. Zeit und Raum werden relativ, Jugend und Alter verschwimmen. Das Stück wird zur scheinbaren Realität in einer theatralen Welt der trügerischen Bilder.
Das hat alles viel Pfiff und Charme und ist spannend anzuschauen, vor allem für Theaterfans ein reines Vergnügen. Filmisch bietet das verzwickte Drama viele intensive Momente, ein paar Überraschungen und betörend schöne Bilder.

Webseite: www.alamodefilm.de

Originaltitel: Vous n'avez encore rien vu
Frankreich / Deutschland 2012
Regie: Alain Resnais
Drehbuch: Laurent Herbiet und Alex Révali (nach dem Theaterstück EURYDIKE von Jean Anouilh)
Darsteller: Sabine Azéma, Anne Consigny, Pierre Arditi, Lambert Wilson, Michel Vuillermoz, Michel
Länge: 105 Minuten
Verleih: Alamode
Kinostart: 6. Juni 2013

PRESSESTIMMEN:

"Das nahezu hermetisch angelegte Kammerspiel – es wurde bis auf wenige Außenaufnahmen fast vollständig in einem artifiziell überhöhten, sich ständig verändernden Studio-Dekor gedreht – ist zweifelsohne eine von Alain Resnais' intellektuellsten und zugleich verspieltesten filmliterarischen Arbeiten überhaupt, mit behender Leichtigkeit in Szene gesetzt."
DIE ZEIT

FILMKRITIK:

Antoine d’Anthac ist tot – der berühmte Autor, ein leuchtender Stern am französischen Theaterhimmel ist unter merkwürdigen Umständen ums Leben gekommen. Vielleicht ein Unfall, vielleicht Selbstmord ... Die Weggefährten seiner Karriere, die Schauspielerinnen und Schauspieler in seinen Stücken, treffen sich in d‘Anthacs Haus, um seinen letzten Willen entgegenzunehmen. Hier, in der ebenso würdevollen wie bühnenhaften Halle eines alten Schlosses, führt ihnen der Butler Marcellin die Probenfassung einer Inszenierung als Video vor: Eine Gruppe junger Schauspieler will EURYDYKE, Antoines größten Erfolg, auf die Bühne bringen. Neu interpretiert, in einer modernen Fassung. Die Trauergäste sollen beurteilen, ob die jungen Leute das Stück aufführen dürfen.

Kaum sehen sie die ersten Bilder, sind d’Anthacs Freunde sofort wieder in ihren Texten. Sie alle haben vor 20, 30 oder 40 Jahren genau dieselben Worte gesprochen wie die jungen Schauspieler auf der Leinwand vor ihnen. Die Hauptrollen spielen Eurydike und Orpheus. Sabine Azéma und Anne Consigny haben damals, in ihrer Jugend, die Eurydike gespielt. Ihre ehemaligen Partner, Pierre Arditi und Lambert Wilson, sind ebenfalls anwesend. Leise sprechen sie mit, sie suchen den Blick ihrer Partner. Und schon finden sich die Paare und gleiten wie im Traum über die Worte des Stückes in ihr Spiel, während auf der Leinwand die Inszenierung weitergeht. Ein riesiges Foucaultsches Pendel gehört zu der modernen Aufführung. Es symbolisiert die verrinnende Zeit, der eigentlich keiner entkommen kann. Doch die Anwesenden erheben sich über Zeit und Raum. Sie spielen in einer Parallelwelt, die ihre eigenen Gesetze hat. Worte wiederholen sich, Orte wechseln wie traumhafte Schattenreiche. Und alle spielen ihr Stück bis zum Ende, weil sie nicht anders können.

Ein Film im Film, ein Theaterstück und ein Haufen Schauspieler – gut und schön! Aber was hat das alles mit d’Anthacs letztem Willen zu tun? Hier wird es richtig raffiniert, denn natürlich gibt es ständig Bezüge zwischen den Beteiligten und dem werten Verstorbenen. Seine letzte Botschaft ist gleichzeitig Geständnis und Testament. Ein paar hübsche Gemeinheiten sind auch dabei. Und er hält noch eine Überraschung für seine Freunde bereit.

Am Ende ergibt sich ein großes Bekenntnis zur ewigen Liebe und zum Theater der Worte – ob im Film, auf der Bühne oder in der Literatur. Die Botschaft ist hübsch verpackt und wirkt nicht nur irgendwie sehr französisch, sondern hat auch viel mit der moderneren französischen Literatur zu tun, vor allem mit Jean Anouilh, dessen Stück EURYDIKE den Hintergrund für Resnais‘ Interpretation bildet, und mit Resnais selbst, dem schlauen, alten Fuchs. Er hat einen Film gemacht, in dem er Schauspielern huldigt und sie gleichzeitig liebevoll auf die Schippe nimmt. Dabei spart er sich selbst nicht aus. Selbstironisch zeigt er, wie trügerisch Erinnerungen sind und wie sehr die Menschen sich abhängig machen von Worten, die im Angesicht der Ewigkeit doch gar nichts zählen. Und seine Schauspieler spielen für ihn, den Altmeister des eleganten Dialoges, mit einer freudvollen Intensität und mit so viel Wärme inmitten der Künstlichkeit der theatralen Vorgabe, dass man gar nicht genug bekommen kann.

Zu interpretieren gibt es viel in diesem Film, der so schön anzusehen ist und nur am Schluss ein bisschen ausfranselt. Ein wenig Wissen über das Theater, über Anouilh und die französischen Autoren des 20. Jahrhunderts ist hilfreich, aber nicht notwendig, um sich in diesem hochinteressanten Vexierspiel, bei dem die Teile sich erst am Ende notwendig zusammenfügen, auf anspruchsvolle Weise zu amüsieren.

Gaby Sikorski

Bei einem Film von Alain Resnais kann man immer etwas Besonderes erwarten, und das ist auch dieses Mal der Fall.

Ein archäologisch anmutender großer runder Saal. Das Anwesen gehörte dem Theaterautor Antoine d’Anthac, der soeben verstorben ist. Der Majordomus des Toten benachrichtigt dessen Freunde. Es sind alles Schauspieler, manche davon Mitglieder der Comédie Française, die früher in d’Anthacs Tragödie „Eurydike“ mitwirkten. Sie sollen zur Testamentseröffnung kommen, und alle, ein Dutzend etwa, treffen auch wirklich ein. Die Entscheidung, die sie treffen müssen: Sie sollen beschließen, ob eine junge Theatertruppe namens Compagnie de la Colombe das Drama „Eurydike“ in einer modernisierten Form spielen darf.

Während einer Probeaufführung fühlen die Geladenen derart mit, dass sie parallel selbst wieder in ihre alten Rollen schlüpfen: diejenige von Orpheus und jene von Eurydike etwa, die zusammen plötzlich in einem Marseiller Hotelzimmer aufwachen. Eurydike wird aber von einem früheren Liebhaber erpresst, flieht deshalb und kommt bei einem Autounfall ums Leben. Orpheus darf unter einer Bedingung Eurydike noch einmal treffen: Er darf ihr nicht ins Gesicht sehen, sie dagegen darf ihm nicht verraten, was sie nach ihrem Tod erlebte. Man weiß aus den Mythen der Antike, dass die Sache nicht gut ausging.
Die Compagnie de la Colombe wird das Stück weiter spielen können, denn der Applaus nach der Probeaufführung ist groß.

Dann das Begräbnis d’Anthacs – gefolgt von einer Riesenüberraschung. Trotzdem kommt der Tod dann noch auf seine Kosten.

Resnais gibt sich wie gesagt mit Gewöhnlichem nicht zufrieden. Originell ist die (u. a. auf Jean Anouilh basierende) Grundidee, prächtig das Schauspielerensemble mit so berühmten Namen wie Sabine Azéma, Anne Consigny, Lambert Wilson, Pierre Arditi, Michel Piccoli, Anny Duperey oder Mathieu Amalric und Hippolyte Girardot. Die Ausstattung sowie die szenischen Arrangements sind bewusst karg wenn auch immer wieder verändert gehalten. Es wird viel diskutiert und philosophiert. Man muss also auf jeden Fall Interesse mitbringen.

Ein typischer Alain-Resnais-Film.

Thomas Engel