Im toten Winkel

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Als Abschluss einer losen Trilogie über Traumata in der nordöstlichen Türkei möchte Regisseurin Ayşe Polat ihren Film „Im toten Winkel“ verstanden wissen, der bei der Berlinale in der Sektion Encounters seine Weltpremiere erlebte. Auf ambitionierte Weise wird in drei Kapiteln von der Unterdrückung der Kurden erzählt und den Folgen für die Psyche von Opfern und Tätern.

Deutschland 2022
Regie & Buch: Ayşe Polat
Darsteller: Katja Bürkle, Max Hemmersdorfer, Aziz Çapkurt, Aybi Era, Çağla Yurga, Ahmet Varlı, Tudan Ürper

Länge: 117 Minuten
Verleih: missingFILMs
Kinostart: Sommer 2023

FILMKRITIK:

In einem kleinen Dorf im Nordosten der Türkei will die deutsche Regisseurin Simone (Katja Bürkle), unterstützt von ihrem Kameramann Christian (Max Hemmersdorfer), einen Film über „immaterielle Denkmäler“ drehen. Subjekt ihres Films ist die alte kurdische Frau Hatice (Tudan Ürper), die das Andenken an ihren vor vielen Jahren entführten Sohn am Leben erhält, in dem sie jeden Freitag eine Suppe kocht.

Begleitet werden die Dreharbeitem vom Menschenrechtsanwalt Eyüp (Aziz Çapkurt) und der Übersetzerin Leyla (Aybi Era), die eines Tages ein kleines Mädchen mit zu den Dreharbeiten bringt. Melek (Çağla Yurga) ist die Tochter ihres Nachbarn Zafer (Ahmet Varlı), der, wie sich später herausstellt, ein Mitglied der türkischen Geheimpolizei ist, jener Polizei, die vor vielen Jahren Hatices Sohn entführte und vermutlich ermordete.

Sich mit diesen Verbrechen zu beschäftigen und sei es nur in Form einer scheinbar harmlosen Dokumentation birgt Gefahren, wie sehr bald deutlich wird. Doch nicht nur Simone und Christian fühlen sich bald verfolgt, auch Zafer scheint beobachtet zu werden und driftet in zunehmende Paranoia ab.

Schon als klassisch lineare Erzählung wäre der komplexe Inhalt von „Im toten Winkel“ ein Brocken, doch die deutsch-türkische Regisseurin Ayşe Polat hat noch mehr im Sinn: In drei Episoden faltet sie die Ereignisse auf, erzählt aus drei unterschiedlichen Perspektiven, die sich ergänzen, zum Teil widersprechen. Zusätzlich bedient sie sich unterschiedlicher Bildformate, zeigt zum Teil die Aufnahmen des deutschen Dokumentarfilmteams, verwendet Handybilder und dazu Aufnahmen von Überwachungskameras.

Auch wenn dieses komplexe Geflecht an Erzählperspektiven und Bildformaten in Momenten etwas überambitioniert wirkt und nicht immer schlüssig zueinander passt, funktioniert es als Metapher für einen Konflikt, der seit Jahrzehnten gleichermaßen am helllichten Tage und doch im Schatten abläuft. Die Unterdrückung der kurdischen Bevölkerung im Nordosten der Türkei ist eine seit langem fortdauernde Realität, die in den Augen der westlichen, der deutschen Öffentlichkeit lose präsent ist, aber von den viel zu vielen anderen Tragödien der Menschheit verdrängt wird.

Wider des Vergessen agieren so etwa die sogenannten „Samstagsmütter“, die in Fußgängerzonen sitzen und Bilder ihrer verschwundenen, vermutlich ermordeten Söhne hochhalten. Gerade das keine Klarheit über das Schicksal dieser Verschwundenen herrscht macht es schwierig, einen Abschluss zu finden, lässt die Söhne wie Geister wirken, die bis in die Gegenwart hinein wirken.

Doch nicht nur die Folgen des seit so langem schwelenden Konflikts für die Opfer erzählt Polat, in Gestalt des Polizisten Zafer gibt sie auch der Täterseite ein Gesicht. Als neues Mitglied seiner Einheit wird Zafer kritisch betrachtet, gerade weil er mit der Übersetzerin Leyla zu tun hat. Allein diese Nähe macht ihn für ein paranoides System verdächtig, was zu Zafers Überwachung führt und die Spirale der Paranoia weiterdreht.

Mit vielfältigen Motiven und Genreelementen spielt Polat, vom Politthriller über das Sozialdrama bis hin zur Geistergeschichte. Etwas viel ist das zwar bisweilen, durch das große Figurenpersonal, die vielen Abzweigungen und disparaten Elemente wirken manche Momente etwas zu kursorisch. Dennoch überzeugt „Im toten Winkel“ als vielschichtiges Bild einer verfahrenen Situation, in der gegenseitiges Misstrauen die Psyche der Menschen zunehmend angreift und einen Ausweg, ein Miteinander der seit Jahrzehnten verfeindeten Seiten kaum möglich erscheinen lässt.

 

Michael Meyns