In der Nacht des 12.

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Sehr, sehr spannend und dabei eigentlich unspektakulär. Es geht um einen unaufgeklärten Frauenmord in den französischen Alpen und um den Polizisten Yohan, den dieser Fall nicht mehr loslässt.
Nach einem echten Kriminalfall, der als Vorlage diente, erzählt Dominik Moll („Die Verschwundene“) ein sehr sehenswertes Drama, in dem er die akribische Polizeiarbeit ebenso realistisch beschreibt wie die Umstände des Femizids, dem eine junge Frau auf brutale Weise zum Opfer fällt. Dazu noch großartig gespielt und mit packenden Dialogen … das könnte auch ein klassischer Krimi sein. Aber nur beinahe! Denn dieser Film hat noch mehr zu bieten.

Webseite: https://ascot-elite.de/

Belgien, Frankreich 2022
Regie: Dominik Moll
Drehbuch: Dominik Moll, Gilles Marchand
Darsteller: Bastien Bouillon, Bouli Lanners, Anouk Grinberg, Sylvain Baumann
Kamera: Patrick Ghiringhelli
Musik: Olivier Marguerit

Länge: 114 Minuten
Verleih: Ascot Elite
Kinostart: 12. Januar

FILMKRITIK:

Eine Tote und die Suche nach ihrem Mörder – ein Rätsel und seine Entschlüsselung? Clara wurde nur 21 Jahre alt. Als sie nachts auf dem Heimweg ist, wird sie von einem Unbekannten überfallen, mit Benzin übergossen und angezündet. Sie stirbt auf einem Kinderspielplatz. Beinahe gleichzeitig feiern die Polizisten in der Kripozentrale in Grenoble. Yohan hat gerade die Teamleitung übernommen – sein Vorgesetzter geht in den Ruhestand und wird von den Kollegen mit einer großen Party gefeiert. Am nächsten Morgen fahren die verkaterten Beamten zum Fundort von Claras Leiche nach St. Jean de Maurienne, einer Kleinstadt in den französischen Alpen. Die üblichen Untersuchungen nehmen ihren Lauf, die Ermittler arbeiten in Zweierteams. Yohan übernimmt zusammen mit einem Kollegen die heikle Aufgabe, der Mutter die Todesnachricht zu überbringen. Claras beste Freundin Nanie kannte Clara am besten und gibt bereitwillig Auskunft. Die Tote hatte offenbar einen festen Freund, Wesley. Der Tatverdacht gegen ihn bestätigt sich nicht. Auch Claras Klettercoach Jules, der sie nicht nur in der Kletterhalle trainierte, sondern sich als einer ihrer „Sex Friends“ bezeichnet, erweist sich als unschuldig. Johan und sein Partner Marceau sind ein eingespieltes Team, doch sie bleiben erfolglos, obwohl sie immer tiefer in Claras Leben und in ihre Beziehungen eintauchen. Manchmal sieht es so aus, als stünden sie kurz vor der Aufklärung, bis die nächste Spur im Sand verläuft. Die Zeit vergeht und damit sinken die Chancen, den Mörder zu finden. Doch für Johan ist der unaufgeklärte Mord an Clara wie eine Wunde, die nicht heilen will. Drei Jahre nach der Tat führt eine neue Spur zu einem bisher unbekannten Mann, der durch sein verdächtiges Verhalten die Aufmerksamkeit der Kripoleute erregt.

Ein einsamer Radfahrer, der nachts seine Runden im Velodrom dreht, dazu ein Insert mit der Information, dass 20 % aller Mordfälle ungeklärt bleiben würden und dass es in diesem Film um einen solchen Fall geht. Dominik Moll setzt in seinem Einstieg auf eine Atmosphäre, die in Kürze den gesamten Film widerspiegelt: die Hauptperson – der Kripo-Ermittler Yohan – als nächtlicher Fahrradfahrer, der sich im wahrsten Sinne des Wortes abstrampelt und dabei ganz ruhig wirkt. Die Inserts schaffen den realistischen, dokumentarisch wirkenden Background, und die Bilder vom Polizeipräsidium zeigen den Kreis der Ermittler. Ein vielversprechender Beginn also für einen spannenden Thriller, allerdings mit einem ungewöhnlichen Aspekt: Hier wird vorab das Ende verraten – eigentlich ein Tabu. Der Regisseur spoilert also seinen eigenen Film, der eigentlich ein klassischer Whodunit ist. Dennoch – oder vielleicht gerade deswegen? – gelingt es Dominik Moll, der gemeinsam mit Gilles Marchand das Drehbuch schrieb, eine knisternde Spannung aufzubauen und zu halten. Das ist umso erstaunlicher, als der gesamte Film insgesamt eher unspektakulär wirkt, manchmal sachlich nüchtern wie ein Bericht, auch was die visuelle Gestaltung betrifft. Die Kameraarbeit zeigt klare Linien in gut durchdachten, wenig auffälligen Bildern und seltene, aber gezielte Großaufnahmen. Der Effekt ist dadurch umso stärker. Auf schnelle Fahrten wird verzichtet, das insgesamt eher gemächliche Tempo und eine Farbgestaltung in sanften Tönen tragen zur leicht düsteren Grundstimmung bei, unterstützt von einem Soundtrack, der mit seinen Choreinlagen manchmal beinahe klerikal wirkt. Auf krimiübliche schnelle Schauplatzwechsel wird ebenso verzichtet wie auf echte Schockmomente. Der Mord wird zwar gezeigt, ist aber zum einen keine Überraschung – sowohl der Filmtitel als auch die Inserts bereiten darauf vor – und zum anderen bleibt die Darstellung in einem Rahmen, der es auch sensiblen Gemütern erlaubt, das Geschehen zu verfolgen. Deutlich stärker als die optische Wirkung ist der psychologische Effekt; die erbarmungslose Brutalität der Tat und Claras grausamer Tod bleiben den gesamten Film über präsent.

Die Charakterisierung der Hauptpersonen entwickelt sich parallel zur Arbeit am Fall. Der ernsthafte, schweigsame Yohan steht im Mittelpunkt. Bastien Bouillon spielt ihn souverän und aufmerksam, er braucht weder eine laute Stimme, um sich durchzusetzen, noch beeindruckt er mit Körperkraft – im Gegenteil: Yohan ist ein schmaler, drahtiger Kerl, unauffällig und dennoch präsent. Ein sanftmütiger Polizist, einer von der liebenswürdigen, ruhigen Art, doch auch, wenn er sehr beherrscht wirkt, sind ihm die Emotionen in Blicken und Gesten anzusehen. Er scheint erfüllt von einer leisen Melancholie, die den gesamten Film durchzieht. Lediglich auf dem Fahrrad kann sich Yohan abreagieren – das Hamsterrad des Jobs ersetzt er durch das Velodrom, das ist ein bisschen absurd und gerade deshalb so gut. Yohan geht in seinem Beruf auf, er lebt allein, nimmt aber zwischendurch seinen Kollegen Marceau bei sich auf, der aufgrund von Eheproblemen sonst auf dem Kommissariat übernachten würde. Die beiden bilden ein perfektes Team, das sich durch Gegensätze ergänzt. Bouli Lanners spielt Marceau als überschäumenden Charakter, der so offensiv an das Gute glaubt, dass ihm schon mal der Kragen platzen kann. Er leidet sichtbar unter der Bitterkeit, die ihn immer stärker erfüllt und zum Zyniker machen könnte.

Dominik Moll zeigt in schöner Beiläufigkeit und sehr realistisch eine verschworene Gemeinschaft von Ermittlern, ihre Auseinandersetzungen mit der Bürokratie, den zermürbenden Kampf gegen schlechte Arbeitsbedingungen, unbezahlte Überstunden und fehlende finanzielle Ressourcen. „Der Kampf zwischen Gut und Böse mit einem defekten Drucker“, meint einer der Beamten zwischendurch. Dabei sind sie sich trotz aller unterschiedlichen Ansichten einig. Erst zum Ende hin dringt eine Frau in diese Männergesellschaft vor, Nadia, die drei Jahre nach dem Mord an Clara Yohans neue Partnerin wird. Mouna Soualem spielt die neue Kollegin als ehrgeizige Einzelgängerin, die sich mit Feuereifer auf die Arbeit stürzt. Parallel dazu nimmt eine neue Richterin den Fall wieder auf und genehmigt zusätzliche Mittel. Auch wenn die Hauptpersonen Männer sind: Die Frauen – die tote Clara, Nanie, Nadia und die Richterin – sind der rote Faden, der alles verbindet. Und irgendwo in dem Gespinst der Beziehungen zwischen Männern und Frauen könnte der Schlüssel zum Mord an Clara liegen.

 

Gaby Sikorski