In meinem Kopf ein Universum

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Kurz nach der Oscar-Verleihung kommt mit „In meinem Kopf ein Universum“ ein Film in die Kinos, der mit seiner zentralen Darstellungen eines schwer behinderten Mannes, ideal in die lange Reihe vergleichbarer Filme aus Hollywood zu passen scheint. Doch Maciej Pieprzyca erzählt ungleich pragmatischer und ist gerade dadurch deutlich berührender als viele vergleichbare Filme.
- Ausgezeichnet mit dem Publikumspreis der Filmkunstmesse Leipzig 2014.
- Film des Monats von kinofenster.de - Onlineportal für Filmbildung

Webseite: www.mfa-film.de

Polen 2014
Regie, Buch: Maciej Pieprzyca
Darsteller: Dawid Ogrodnik Dorota Kolak, Arkadiusz Jakubik, Helena Sujecka, Mikolaj Roznerski, Kamil Tkacz
Länge: 108 Minuten
Verleih: MFA+, Vertrieb: Die Filmagentinnen
Kinostart: 9. April 2015
 

FILMKRITIK:

„Ihr Sohn ist nicht mehr als Gemüse“ bekommt die Mutter (Dorota Kolak) von einer wenig emphatischen Ärztin zu hören. Es ist das Jahr 1987, wir befinden uns in Polen, doch nicht nur hier ist das Wissen um schwere Nervenerkrankungen noch nicht sehr entwickelt. Mateus (Kamil Tkacz) ist sechs, sieben Jahre alt und sitzt im Rollstuhl. Sprechen kann er nicht, bewegt sich nur robbend, doch im Gegensatz zu der Ärztin ahnen die Eltern, dass ihr Sohn alles andere als ein Gemüse ist.

Die Jahre vergehen, Mateus wird älter (nun gespielt von Dawid Ogrodnik) sein Vater (Arkadiusz Jakubik) macht ihn mit der Faszination der Sterne vertraut, seine Geschwister Matylda (Helena Sujecka) und Tomek (Mikolaj Roznerski) haben sich längst an ihren ungewöhnlichen Bruder gewöhnt, der meist am Fensterbrett sitzt und die Nachbarschaft betrachtet.

Bald lässt ein Voice Over-Kommentar den Zuschauer an Mateus Gedanken teilhaben, die sich vor allem um Brüste drehen: Denn wenn immer sich eine Frau zu ihm runterbeugt, eröffnet sich Mateus der Blick in Dekolletes. Doch ob er einmal selbst so etwas wie Liebe erfahren wird? Eine Krankenschwester in einer Klinik, in der er nach dem Tod des Vaters und einem Schwächeanfall der Mutter lebt, scheint ihn ernsthaft zu mögen, doch ihre Zuneigung ist nur vorgetäuscht. So geht Mateus Suche weiter, doch dank eines Computersystems ist es ihm schließlich endlich möglich, zumindest rudimentär zu kommunizieren.

An etliche Filme fühlt man sich bei „In meinem Kopf ein Universum“ erinnert, auf den ersten Blick an rührselige Hollywood-Dramen wie „Mein linker Fuß“ oder aktuell „Die Entdeckung der Unendlichkeit“, bald dann eher an ungewöhnlichere Filme wie „Ziemlich beste Freunde“ oder „Schmetterling und Taucherglocke“ bis man schließlich merkt, dass Maciej Pieprzycas Film etwas ganz und gar Eigenes ist. Auf einer wahren Geschichte basiert er zwar, hat mit der Darstellung von Dawid Ogrodnik (aber auch von Kamil Tkacz) eine erstaunliche, rein auf das Physische reduzierte Performance im Mittelpunkt, erzählt aber mit einem fast schroffen Pragmatismus, der auch nur den Anschein von Rührseligkeit gar nicht erst aufkommen lässt.

So wie seine Familie mit Mateus umgeht, würden sich wohl viele Behinderte wünschen, das die „normale“ Welt mit ihnen umgeht: Ganz normal eben, ohne mit Glacehandschuhen angefasst zu werden, als Menschen wahr genommen zu werden und nicht als Behinderte. Dass dieser Pragmatismus auch mit dem Ende der 80er noch unterentwickelten polnischen Gesundheitssystem zu tun hat, dass sich erst mit den Jahren verbesserte, lässt „In meinem Kopf ein Universum“ ganz nebenbei auch zu einem Film über die jüngere polnische Vergangenheit werden.

Doch im Mittelpunkt steht stets Mateus, der völlig ohne Selbstmitleid über sein Schicksal erzählt, dass vor allem von der Unmöglichkeit zu kommunizieren geprägt wird. Lange Jahre können seine Eltern, dann seine Pflegerinnen seine Wünsch nur erahnen, sie vielleicht an seinen Augen ablesen. Doch welche komplizierten Gedanken in seinem Kopf existieren und keinen Weg nach Außen finden, dass muss ihnen zwangsläufig fremd bleiben. Wie Pieprzyca diese an sich furchtbar tragische Geschichte zu einem Film formt, der alles andere als traurig ist, ist bemerkenswert. Gerade das er dabei so vollkommen pragmatisch erzählt, die Normalität in Mateus Leben betont, auch wenn er von Außen alles andere als normal wirkt, macht die Geschichte so berührend und „In meinem Kopf ein Universum“ zu einem so außerordentlichen Film.
 
Michael Meyns