Iraqi Odyssey

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Aus der Geschichte einer Familie wird die Geschichte eines Landes, und aus dem persönlichen Schicksal einiger Menschen entwickelt sich ein Drama über die Hoffnung auf Freiheit. Der irakisch-schweizerische Filmemacher Samir hat mit der Chronik seiner eigenen Familie ein unglaublich fesselndes Zeitdokument geschaffen. Ein guter Film – ein sehr guter sogar – und ein absolut aktueller und optimistisch stimmender Beitrag zum Thema Flucht und Migration: Samirs über die ganze Welt verstreute Familie mit ihren gemeinsamen Wurzeln ist nicht nur außergewöhnlich sympathisch, sondern auch ein gutes Beispiel für die Notwendigkeit von Menschlichkeit und Toleranz.

Webseite: www.iraqiodyssey.ch/de

Schweiz/Deutschland/Irak 2015 - Dokumentarfilm
Autor und Regisseur: Samir
Musik: Maciej Sledziecki
Länge: 90 Minuten
(zusätzlich gibt es noch eine 3D-Langfassung mit 163 Minuten)
Verleih: NFP, Vertrieb: Filmwelt
Kinostart neu: 14. Januar 2016
 

Auszeichnungen:

Best Asian Film Award, Abu Dhabi Film Festival (2014)
3. Platz Publikumspreis des Panoramas, Berlinale (2015)

FILMKRITIK:

Am Anfang steht ein Märchen, beinahe wie aus 1001 Nacht, nur schöner: Es war einmal eine glückliche, muslimische Familie, die Jamal Aldins, die in Wohlstand und Sicherheit im Irak lebten. Viele von ihnen waren oder wurden Akademiker, die Frauen wie die Männer. Doch dann änderten sich Ende der 50er Jahre des 20. Jahrhunderts die politischen Verhältnisse: Der Irak löste sich von der britischen Vorherrschaft, die Monarchie wurde abgeschafft, was allgemein bejubelt wurde, aber leider nicht lange: Die folgende Regierung wurde durch einen Militärputsch gestürzt, und damit begann der Exodus der Familie. Aufgrund ihrer politischen Einstellung – viele waren Kommunisten – mussten sie flüchten. Der kleine Samir, im Irak geboren, wuchs in der Schweiz auf, in der Heimat seiner Mutter. Über die Jahre verließen immer mehr Mitglieder der Familie den Irak, bis sie schließlich über die ganze Welt verstreut war. Manche fanden schnell Aufnahme, manche mussten jahrelang dafür kämpfen. Sie alle haben außer ihren kulturellen Wurzeln zumindest eines gemeinsam: Sie glauben daran, dass irgendwann wieder bessere Zeiten kommen.
 
Heute gibt es keine glückliche, wohlhabende Familie Jamal Aldin mehr im Irak. Praktisch alle leben im Exil. Aber es gibt Samir, der das Wunder geschafft hat, über einen Zeitraum von vielen Jahren mithilfe seiner Verwandten einen spannenden Film zu drehen, der nachdenklich stimmt: Wie kann es sein, dass all diese sympathischen, klugen und gut ausgebildeten Menschen ihr Land verlassen mussten? Warum sind sie zu Flüchtlingen geworden?
 
In den letzten Jahrzehnten hat der Irak beinahe seinen gesamten Mittelstand verloren. Wer es sich irgendwie erlauben konnte, ist geflohen. Jeder fünfte Iraker lebt im Ausland. Das hört sich bekannt an, denn ähnlich war es im letzten Jahrhundert in Europa, nicht nur in Nazideutschland, sondern auch in den Ostblockstaaten einschließlich der DDR oder auf dem Balkan. Sobald an einer Ecke mal Ruhe eingekehrt ist, brodelt es an einer anderen. Und schon folgt die nächste Erkenntnis: Dauerhaften Frieden scheint es nicht zu geben. Er ist ebenso zerbrechlich wie der Wohlstand. Umso dankbarer sollte man sein, wenn man für seine Lebenszeit eine Phase der Sicherheit erwischt hat. Doch anstelle von Dankbarkeit regieren oft Angst, Ignoranz und Misstrauen gegenüber Menschen, die ihre Heimat verlassen mussten. Die Familie Jamal Aldin hat Glück im Unglück gehabt. Die meisten von ihnen konnten Krieg, Verfolgung und Vertreibung überleben, ganz im Gegensatz zu vielen Juden, Armeniern, Christen, Schiiten, Homosexuellen und so weiter und so fort, die wegen ihrer Herkunft, Religion, politischen Ansicht und so weiter und so fort sterben mussten. Und auch mehr als 80 Jahre nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten bleibt unvergessen, was Deutsche der Welt und den Menschen angetan haben. Dadurch, dass man sich weigert, an diese Schandtaten zu denken, werden sie nicht ungeschehen. Menschenrechte, die auf dem Papier stehen, nützen nichts, wenn sie nicht von den Menschen selbst mitgetragen werden.
 
Was also kann man tun, um denen, die nicht denken wollen oder können, das Nachdenken beizubringen? Man kann einen Film darüber drehen, in dem echte Geschichten von echten Menschen erzählt werden. Samir hat für seine Familienchronik eine Reihe hochsympathischer Heldinnen und Helden gefunden, die mit Mut, Witz, Verstand und ohne jede Sentimentalität über sich und ihre Biographien erzählen und dafür ihre Fotoalben geplündert haben. Manche dieser Lebensgeschichten hören sich an wie Thriller, andere sind beinahe komisch, und die meisten sind sehr anrührend; dazu wird historisches Filmmaterial in chronologischer Folge gezeigt: Wochenschauen, Nachrichtenbeiträge und andere Zeitdokumente ergänzen die persönlichen Eindrücke und Impressionen. Ob Tante Samira in Neuseeland oder Onkel Sabah in London, ob Cousin Jamal, der aus Liebe zurück nach Moskau ging, oder Samiras Halbschwester Souhair: Ihre spannenden Erlebnisse sind so einzigartig wie sie selbst.
 
Wer diesen Film nicht sieht, hat tatsächlich etwas verpasst: eine Gelegenheit zur Auseinandersetzung mit einem aktuellen, sehr ernsthaften Thema, das hier mit angenehmer und niemals unangemessener Leichtigkeit behandelt wird. Und es ist nur zu wünschen, dass der Optimismus, von dem der Film getragen wird, eines Tages seine Berechtigung findet.
 
Gaby Sikorski