Johatsu – Die sich in Luft auflösen

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„Johatsu“ bedeuten im Japanischen „verdunsten, sich in Luft auflösen“. Das machen derzeit etwa 100 000 Menschen pro Jahr in Japan. Sie verschwinden aus für sie unerträglichen Lebensumständen, um an einem anderen Ort als Unbekannte wieder aufzutauchen und ein neues Leben anzufangen. Man nennt sie „Johatsu“.
Der emotionale Dokumentarfilm von Andreas Hartmann und Arata Mori begibt sich auf die verwischten Spuren dieser Menschen und der Unternehmen, die ihnen beim Verschwinden und Wiederauftauchen helfen. Die Zuschauer werden auf eine Reise mitgenommen, die in teils nüchternen, teils faszinierenden Bildern von einer durch rigide Prinzipien bestimmten Gefühlswelt erzählt.

Webseite: https://www.realfictionfilme.de/johatsu-die-sich-in-luft-aufloesen.html

Dokumentarfilm
Deutschland, Japan 2024
Regie: Andreas Hartmann, Arata Mori
Drehbuch: Andreas Hartmann
Kamera: Andreas Hartmann
Musik: Jana Irmert, Mika Takehara

Länge: 86 Minuten
Verleih: Real Fiction
Start: 14.11.2024

FILMKRITIK:

„Johatsu“ beginnt wie ein Agenten-Thriller. Zwei Frauen warten in einem Auto nervös auf eine Kontaktaufnahme, die nach einem ausgeklügelten Zeitplan abläuft. Immer wieder scannen sie die Umgebung auf Auffälligkeiten, bis schließlich ein Mann zu ihnen ins Auto springt. Erleichtert teilen sie ihm mit, dass er nun in Sicherheit ist und fahren mit ihm davon – in ein neues Leben. Die beiden Frauen entpuppen sich als Saita, die Inhaberin eines speziellen, „Night Moving Company“ genannten Umzugsunternehmens, und ihre Mitarbeiterin. Die beiden haben gerade einem Kunden geholfen, einer toxischen Beziehungen mit seiner krankhaft eifersüchtigen Partnerin zu entkommen, die ihn in die Wohnung einzusperren pflegte.

„Johatsu“ geht den Schicksalen von Menschen wie diesem Kunden nach, über dessen weiteren Weg wir selbstverständlich nichts erfahren. Stattdessen werden weitere Menschen vorgestellt, die verschwunden sind, um ein neues Leben zu beginnen. Saita erzählt von der Geschichte ihres Unternehmens, in dem mittlerweile einige ihrer ehemaligen Kunden arbeiten, um anderen Menschen zu helfen, die in einer ähnlichen Lage waren wie sie selbst. Außerdem wird ein Detektiv begleitet, der versucht, einen „Johatsu“ aufzuspüren.

Das ist wahrlich keine leichte Kino-Kost, im Gegenteil. Denn die „Verdunsteten“, denen wir in „Johatsu“ begegnen, sind meist nicht glücklich geworden. Es werden Menschen gezeigt, die einmal fürchterliche Angst hatten und noch haben, die sich für ihr früheres berufliches oder gesellschaftliches Scheitern immer noch schämen, die sich von der Vergangenheit, die sie durch ihr radikales Verschwinden hinter sich lassen wollten, trotz allem doch nicht lösen können. Die beiden Dokumentarfilmer, Andreas Hartmann und Arata Mori, kommen diesen Menschen durch behutsame Fragen und geduldige, aber intime Kameraarbeit (für die Hartmann ebenfalls verantwortlich zeichnet) sehr nahe. Und durch diese Nähe erfährt der Zuschauer eben auch hautnah, welche Verletzungen Menschen davontragen, die sich den Prinzipien einer Gesellschaft unterwerfen, in der das Scheitern als unauslöschliche Schande begriffen wird. Das ist bewegend, aber auch einigermaßen deprimierend. Erst eine Szene, in der ein Song mit dem bezeichnenden Titel „Tschüss erst mal“ im Mittelpunkt steht, schafft etwas Distanz und wirkt auflockernd bis humorvoll.

Distanz geschaffen wird auch durch Saitas Firmengeschichte. Sie betreibt ihr Unternehmen seit über zwanzig Jahren und behauptet sich einer wachsenden Konkurrenz gegenüber. Diese Unternehmen – das stellt der Film unmissverständlich klar – arbeiten auf einer hundertprozentig legalen Basis, auch wenn sie gelegentlich Ausflüge in rechtliche Grauzonen unternehmen. Wenn es also in Japan seit über zwanzig Jahren möglich und legal ist, mit dem Identitätswechsel von Menschen Geld zu verdienen, dann ist das ein Zeichen dafür, dass die persönliche Identität im modernen Industriestaat dramatisch an Bedeutung verloren hat. Stehen wir hier an einer Zeitenwende? „Johatsu“ gibt darauf bewusst keine Antwort, sondern führt seinen Zuschauern das Phänomen lediglich vor.

Der Film stimmt nachdenklich, er wirkt beunruhigend. Die japanische Gesellschaft, die der Film zeigt, ist unseren europäischen Lebensmodellen mittlerweile zu nahegekommen, als dass man diesen kommerzialisierten Identitätsverlust als exotisch abtun könnte. Der oftmals mit einer Midlife Crisis in Verbindung gebrachte Traum, einfach alles hinzuschmeißen und „irgendwo, irgendwie“ von vorne anzufangen, könnte auch in Europa Realität werden. Vorausgesetzt, man entdeckt hierzulande, dass man damit Geld verdienen kann …

 

Gaby Sikorski