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Einer der ambitioniertesten Filme in Cannes 2022 – der erste pakistanische Film im Festival, eine Provokation für jede patriarchalische Gesellschaft und damit ein durchaus gewagtes Statement des jungen Regisseurs Saim Sadiq: Die Geschichte eines Mannes, der unter den Zwängen seiner Familie leidet und seine Freiheit entdeckt, als er sich in eine Transfrau verliebt. Das Melodram ist auch cineastisch ein Gewinn: In einer sensiblen Bildgestaltung bietet der Film nicht nur eine ungewöhnliche Romanze, sondern auch stimmungsvolle Einblicke in den pakistanischen Alltag.

Festivals/Auszeichnungen
Internationale Filmfestspiele von Cannes, Un Certain Regard: Jurypreis & Queer Palm
Zurich Film Festival, Wettbewerb: Goldenes Auge, Bester internationaler Spielfilm
Asia Pacific Screen Awards: Young Cinema Award
Athens International Film Festival, International Competition: Best Screenplay
World Film Festival of Bangkok: Special Jury Prize Best Ensemble
Cairo International Film Festival: Fathy Farag Prize for Best Artistic Contribution
Indian Film Festival Of Melbourne: IFF Award Best Indie Film
Mostra Internacional de Cinema de São Paulo: Special Jury Award Best Actor Ali Junejo
Filmfest Mannheim-Heidelberg 2022 – Publikumspreis

Webseite: https://filmperlen.com/

Pakistan 2022
Regie: Saim Sadiq
Drehbuch: Saim Sadiq, Maggie Briggs
Darsteller: Ali Junejo, Alina Khan, Sania Saeed, Salmaan Peerzada
Kamera: Joe Saade
Musik: Abdullah Siddiqui

Länge: 126 Minuten
Verleih: Filmperlen
Kinostart: 09.11.2023

FILMKRITIK:

In der Weltstadt Lahore leben 13 Millionen Menschen auf engstem Raum, viele Großfamilien teilen sich eine Wohnung. Das gilt auch für Haider, der mit seiner Frau Mumtaz, seinem Bruder und dessen stetig wachsender Familie zusammen mit dem kranken Vater, der im Rollstuhl sitzt, unter einem Dach wohnt. Haider ist schon lange arbeitslos – in den Augen seines erzkonservativen Vaters ein großes Problem. Doch Haider ist keinesfalls untätig, er kümmert sich um den Haushalt und um die kleinen Nichten, er kocht und putzt. Nur der Arbeitslosigkeit ihres Mannes hat es Mumtaz zu verdanken, dass sie arbeiten gehen darf. Sie ist gelernte Kosmetikerin und liebt ihren Job. Eigentlich könnte es so weitergehen, doch eines Tages bekommt Haider ein Arbeitsangebot: Er kann in der erotischen Tanz-Show der Transfrau Biba Background-Tänzer werden. Haider ist alles andere als talentiert, aber Biba fasziniert ihn, und so versucht er erfolgreich, sich mit Fleiß, Disziplin und Einsatz bei Biba zu bewähren. Mit Erfolg: Sie wird auf ihn aufmerksam, und es entwickelt sich eine heimliche Romanze zwischen den beiden. Allerdings hat sein Job nicht nur positive Folgen, auch wenn Haider durch Biba eine völlig neue Art der Freiheit und des Begehrens entdeckt. Da Haider nun Arbeit hat, angeblich ist er Theatermanager, darf Mumtaz laut Beschluss von Haiders Vater nicht mehr arbeiten gehen. Als sie dann schwanger wird, ist das in den Augen der Familie der längst fällige Beweis, dass Haider wohl doch ein echter Kerl ist. Während Haider sich den familiären Zwängen zu beugen scheint, rebelliert Mumtaz dagegen – es droht eine Katastrophe.

Viele Bilder in diesem Film sind erinnerungswürdig: Haider, der vergeblich versucht, auf Befehl seines Vaters ein Schaf zu schächten, und Mumtaz, die ihn freundlich anschaut und ihm die Arbeit abnimmt. Oder Haider auf seinem Moped, der eine überlebensgroße Reklamefigur von Biba umklammert. Saim Sadiq schafft in seinem ersten Spielfilm eine bestrickende Atmosphäre, er fängt in seinen Bildern und oft mit ungewöhnlichen und ausdrucksvollen Kamerapositionen – von oben, von hinten, durch Fenster und Türen – auch unterschwellige Stimmungen und Emotionen ein, doch dabei gelingt es ihm, stets einen gewissen dokumentarischen Charakter zu bewahren. Der Alltag ist immer gegenwärtig, Sadiq zeigt das normale Leben einer Großfamilie und eben zusätzlich noch die Zwänge und Kräfte, der sie in einer streng patriarchalischen Gesellschaft ausgesetzt ist. Manchmal scheint es, als ob die konservativen Einflüsse bröckeln, doch sowohl in der Beziehung zwischen der schönen, selbstbewussten Transtänzerin Biba und dem eher scheuen Haider als auch in den familiären Bezügen zwischen ihm und seinem Bruder, zwischen Mumtaz und ihrer Schwägerin, aber auch im gesamtgesellschaftlichen Kontext brechen immer wieder die religiös geprägten, traditionellen Rollenbilder durch. Sie machen Bibas Leben schwer, die es gelernt hat oder lernen musste, sich gegen Hass und Vorurteile irgendwie zur Wehr zu setzen. Aber wie können sich Haider und Mumtaz gegen die Tabus zur Wehr setzen, denen sie jeden Tag ausgesetzt sind?

Saim Sadiq gelingt es, in seiner kraftvollen Bildsprache das epische Melodram zu erzählen und ihm eine allgemein gültige und verständliche Tragik zu geben, ohne dabei auf die Tränendrüsen zu drücken. Ein Appell für eine tolerante Gesellschaft, in der die tradierten Vorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit neu gedacht werden. Nicht nur in Pakistan.

 

Gaby Sikorski