Julie – eine Frau gibt nicht auf

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Eigentlich ist Julie eine ganz normale, alleinerziehende und berufstätige Mutter, deren Ex-Mann sich nicht um die Kinder kümmert und mit den Alimenten im Rückstand ist. Angesichts ihres mehr als turbulenten Lebens ist Julie aber auch eine moderne Actionheldin, die zwar ein paar Defizite im Glamour-Bereich hat, aber in Sachen Durchhaltewillen, Beharrlichkeit und Einfallsreichtum Lara Croft oder Indiana Jones in nichts nachsteht.
Regisseur und Drehbuchautor Éric Gravel nimmt den Zuschauer auf einen wahren Höllentrip durch Julies „normalen“ Alltag mit, in dem kleine und großen Katastrophen in atemberaubender Geschwindigkeit abwechseln.

Julie – eine Frau gibt nicht auf
Originaltitel: Á plein temps
Webseite: http://fugu-films.de/site_german/german_home_Julie.html
Frankreich 2022
Regie: Éric Gravel
Drehbuch: Éric Gravel
Darsteller: Laure Calamy, Anne Suarez, Genviéve Mnich, Nolan Arizmendi, Sophia Lemaitre Cremaschi. Cyril Gueï, Delacroix Lucie Gallo, Agathe Dronne, Mathilde Weil
Kamera: Victor Seguin
Musik: Iréne Drésel
Länge: 88 Minuten
Verleih: fugu films
Start: 07.03.2024

FILMKRITIK:

Julies Arbeitstage gleichen einem Hindernislauf. Jeden Morgen gibt sie ihre beiden Kinder vor Sonnenaufgang bei der Tagesmutter ab. Dann erwischt sie im Sprint gerade noch den Zug, der sie von dem Dorf, in dem sie lebt, nach Paris bringt, wo sie im Housekeeping eines Luxushotels arbeitet – in einem Job, für den sie als Akademikerin hoffnungslos überqualifiziert ist. Nach dem hektischem Arbeitsalltag geht die wilde Hatz in umgekehrter Richtung wieder los. Für sich selbst hat Julie keine Sekunde Zeit. Ein Privatleben findet nicht statt.
Als ein Streik den öffentlichen Nahverkehr lahmlegt, bricht Julies Terminplanung endgültig zusammen, denn da sind auch noch die ganzen zusätzlichen Probleme: einen Kindergeburtstag organisieren, die Tagesmutter beruhigen, die wegen ihrer aufmüpfigen Kinder immer mal wieder die Nerven verliert, den kaputten Boiler reparieren, den Ehemann zur Räson bringen ... Und zusätzlich geht’s um Julies Bewerbung für ihren Traumjob, für die sie sich immer wieder heimlich von der Arbeit davonschleichen muss. Julies sorgsam geplantes Alltagsmodell fällt in sich zusammen, ihr Leben scheint auf eine Katastrophe zuzusteuern.
„Der ganz normale Wahnsinn“ ist das Thema von Éric Gravels bitterem Sozialdrama, wobei der Film unmissverständlich klarstellt, dass dieser Wahnsinn eben nicht normal ist, nur weil sich praktisch alle daran gewöhnt haben. Schnell wird deutlich, dass Julies Überforderung System hat: Sämtliche Menschen, mit denen sie privat und beruflich zu tun hat, wissen, dass Julie früher oder später an dieser permanenten Überforderung scheitern muss, doch niemand macht Anstalten, Julie zu helfen oder gar die Ursachen der Überforderungen zu beseitigen. Im Gegenteil: Am Schluss des Films ist deutlich zu ahnen, dass die überraschende Wendung, die Julies Leben nimmt, nur ein Zwischenhoch sein wird. Schon bald wird sie wieder die unlösbaren Aufgaben lösen müssen, die zum Alltag der „ganz normalen“ Menschen fest dazugehören.
Das subtile, aber höchst intensive Spiel von Laure Calamy (Serienfreunden bestens aus der Kult-Serie „Call My Agent“ bekannt) wird noch durch die preisgekrönte Filmmusik unterstützt, die zusätzlich zum Kinoerlebnis beiträgt. Iréne Drèsels kongeniale Klänge verleihen dem Film eine Emotionalität, die Julie sich selbst durch ihre schroffe Entschlossenheit verweigert.
„Julie – eine Frau gibt nicht auf“ ist mit Sicherheit kein einfacher Film, den man beim Verlassen des Kinos einfach vergessen kann. Der Film zwingt das Publikum, sich mit Julies Schicksal auseinanderzusetzen, gerade weil er keine einfache Lösung für die Herausforderungen und Widersprüche anbietet, zwischen denen die Protagonistin zerrieben wird. Der Film ist anstrengend, nervenaufreibend und sehr, sehr spannend – so wie ein Actionfilm oder das Leben einer alleinerziehenden, berufstätigen Mutter.
Gaby Sikorski