Juror #2

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Bei Gerichtsdramen lautet der Schuldspruch gemeinhin: Langweiliges Kammerspiel. Es geht auch anders. Sidney Lumet gelang mit seinen „Zwölf Geschworenen“ ein Klassiker. In dieser Liga bewegt sich nun gleichfalls Clint Eastwood. 94 Jahre ist die Hollywood-Legende alt, vor drei Jahren geriet sein „Cry Macho“ zum argen Flop – für eine oscarprämierte Ikone wäre das kaum eine gelungene Abschiedsvorstellung. Da stehen die Chancen mit einem existenziellen Drama um Schuld und Sühne sowie Fragen nach Moral und Verantwortung schon sehr viel besser. Das ist bewegendes Kino für Herz und Kopf. Ein starkes Plädoyer für altmodisches Kino. Urteil: Erstklassiges Drama eines Wiederholungstäters – es ist das 41. Regie-Werk des einst coolsten Cowboys der Filmgeschichte!

Webseite: https://www.warnerbros.de/de-de/filme/juror-2

USA 2024
Regie: Clint Eastwood
Darsteller: Nicholas Hoult, Toni Collette, Zoey Deutch, Chris Messina, Francesca Eastwood
Filmlänge: 112 Minuten
Verleih: Warner Bros. Entertainment GmbH
Kinostart: 16. Januar 2025

FILMKRITIK:

Reine Routine. Der junge Journalist Justin Kemp (Nicholas Hoult) wird zum Geschworenen in einem Mordprozess berufen. Eigentlich würde er auf das Ehrenamt lieber verzichten und sich um seine hochschwangere Ehefrau Ally (Zoey Deutch) kümmern, der eine Risikogeburt bevorsteht. Doch die Richterin besteht eisern auf ihren zwölf Geschworenen. Zudem scheint der Fall ziemlich klar, das Urteil sollte schnell gefunden werden. Ex-Drogendealer James Sythe (Gabriel Basso) soll für den Tod seiner Freundin Kendall Carter (Francesca Eastwood) verantwortlich sein. In einer Bar gerät das Paar in einen heftigen Streit. Wütend flüchtet die Frau in die stürmische Nacht. Der Freund folgt ihr, Zeugen nehmen die Szene mit ihren Smartphones auf. Am nächsten Tag wird Kendell übel zugerichtet unter einer nahegelegenen Brücke tot aufgefunden. Für die ehrgeizige Bezirksstaatsanwältin Faith Killebrew (Toni Collette) ist dieser scheinbar glasklare Fall ein gefundenes Fressen für ihre geplante Karriere. Der Pflichtverteidiger Eric Resnick (Chris Messina) spult Routineprogramm ab. Die Jury freut sich auf einen kurzen Prozess und ein frühes Ende des lästigen Jobs. Doch plötzlich kommen Zweifel auf. Ausgerechnet Justin stellt sich einen schnellen Schuldspruch entgegen. Er hat gute Gründe sowie ein schlechtes Gewissen, schließlich war er selbst an jenem verhängnisvollen Abend in dieser Bar anwesend. Bei seiner nächtlichen Heimfahrt, so erinnert er sich, war er kurz abgelenkt und es gab einen Zwischenfall. Vermutlich hat er ein Tier angefahren. Zumindest glaubt er das. Zumal er keinerlei Spuren an seinem Auto findet.

Was in jener Nacht tatsächlich passierte, erzählt Eastwood mit Rückblicken, Verhören und Gesprächen der Jury. Die kleinen Puzzlestücke ergeben zunehmend ein plausibles Bild. Doch was geschah tatsächlich in jener verhängnisvollen Nacht? Unter den Geschworenen keimen die Zweifel. Als einer von ihnen mit einer handfesten Überraschung aufwartet, bekommen die Dinge eine ganz neue Dynamik. Während die Staatsanwältin neuen Spuren nachgeht, wächst beim werdenden Vater Justin dramatisch die Unsicherheit sowie das schlechte Gewissen: Was tun?

Eastwood inszeniert sein Stück um Schuld, Sühne und Moral als minimalistisches Kammerspiel mit großer psychologischer Präzision. Überraschende Wendungen halten souverän die Spannung. Wobei es der Hollywood-Ikone weniger um den klassischen Thriller geht, sondern um ein Drama, das seinen Helden in eine verzweifelte Zwickmühle schickt. Jede Entscheidung in diesem existenziellen Dilemma wird nicht ohne Rest aufgehen. Soll ein Unschuldiger verurteilt werden? Soll er seine junge Familie für die vermeintliche Gerechtigkeit im Stich lassen? Eastwood macht das Publikum zum 13. Geschworenen in diesem Fall. Und er entlässt es nicht aus der Verantwortung. Ein cleveres Ende lässt diesen Film beim Zuschauer wohl auch nach dem Abspann weiter laufen.

Einmal mehr verzichtet der Regie-Veteran auf schlichte Gut-Böse-Muster. Er präsentiert Grau-Töne, die gezielt zum Nachdenken provozieren. All das gelingt mit einer unaufgeregten Leichtigkeit, von der andere Filmemacher träumen. Mit diesem „weniger-ist-mehr“-Prinzip überzeugt auch das Ensemble. Sympathieträger Nicholas Hoult („Mad Max: Fury Road“), der klassische „all-american-boy“ mit blauen Augen, hat durchaus dunkle Geheimnisse. Der schnell zum Verbrecher abgestempelte aggressive Kotzbrocken könnte durchaus Opfer von Vorurteilen sein. Geht die Staatsanwältin für ihre Karriere über Leichen? Wie sehr täuscht man sich im vermeintlich schrulligen Opa unter den Geschworenen? Schauspielerisch werden erstklassige Leistungen geboten, auch von Eastwood-Tochter Francesca als verängstigte Schwangere.

15 Jahre lang kursierte das Drehbuch von Jonathan Abrams in der Traumfabrik. Da Studios vornehmlich auf Superhelden und Comic-Variationen setzen, haben vielschichtige Stoffe keinen leichten Stand. Das bekam auch ein Clint Eastwood zu spüren: Lieblos und mit wenigen Kopien brachte der US-Verleih sein meisterhaftes Alterswerk in die Kinos. Vielleicht sorgt Oscar noch für Gerechtigkeit – oder das deutsche Publikum spricht ein verdientes Urteil an der Kinokasse!

Dieter Oßwald