Kajillionaire

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Mit der schrullig schönen Lovestory „The Future“ samt dessen coolem Kätzchen-Erzähler verzauberte Miranda July einst die Berlinale und landete einen veritablen Arthaus-Hit. Elf Jahre dauerte es bis zum nächsten Streich, die kreative Tausendsassa-Künstlerin ist schließlich noch als Autorin und Performance-Künstlerin aktiv. Nun erzählt sie von einer Kleinfamilie, die sich mit findigen Trickbetrügereien über Wasser hält. Als der Vater eine neue Mitarbeiterin rekrutiert, gerät das Familienidyll gehörig aus der Bahn. Brad Pitt fand die Sache so ulkig, dass seine Firma „Plan B“ das Werk produzierte: Eine famose Wundertüte mit ziemlich verblüffenden Wow-Effekten - die trösten sogar über den Verlust des putzigen Kätzchen-Erzählers hinweg.

Webseite: https://upig.de/micro/kajillionaire

USA 2020
Regie: Miranda July
Darsteller: Evan Rachel Wood, Debra Winger, Gina Rodriguez, Richard Jenkins, Adam Bartley
Filmlänge: 105 Minuten
Verleih: Universal Pictures International Germany GmbH
Kinostart: 22.10.2020

FILMKRITIK:

Gleich das erste Bild gerät zum optischen Triumph, gleichsam ein Gruß aus der visuellen Küche der stilbewussten Filmkünstlerin. Der orangefarbene Bus fährt zur Haltestelle vor dem babyblauen Post-Gebäude. Kaum sind die Passagiere ausgestiegen, sieht man das Familien-Trio, das jene Filiale überfallen wird. Kein großer Coup, vielmehr kleine Trickdiebstähle, bei denen Päckchen aus Schließfächern gemopst werden. Der Inhalt entpuppt sich meist als schnöder Kleinkram. Lukrativer läuft die Masche, gestohlene Briefe als vermeintliche Fundsache an die Besitzer zurückzubringen. „Trag’ das Kostüm der katholischen Mädchenschule“ heißt die Empfehlung der kauzigen Eltern (Richard Jenkins und Debra Winger) an ihre Tochter namens Old Dolio (Evan Rachel Wood). Bisweilen werden auch spontan Massagen als Zahlung angenommen – deren Inszenierung umwerfend ulkig ausfällt.

Raffiniert sowie mit akrobatischem Körpereinsatz schleicht die schrecklich diebische Familie täglich an ihrem Vermieter vorbei, um peinliche Nachfragen nach den Mietschulden zu vermeiden. Umgekehrt ertragen sie klaglos, wenn regelmäßig rosaroter Schaum der benachbarten Seifenblasen-Fabrik durch die Decke dringt. Die gemütliche Kleinkriminalität findet ein jähes Ende, als in der Postfiliale eine Überwachungskamera installiert wird. Der findige Vater zaubert freilich schnell den nächsten Trick aus dem Hut: Flugzeuggepäck samt Versicherungsbetrug. Auf die Raffgier der Menschen ist eben Verlass: „Most People want to be Kajullionaire“, heißt es philosophisch (man kann gespannt sein, ob jenes titelgebende Fantasiewort in der deutschen Fassung zum „Fantastillionär“ gemacht wird).

Beim ersten Flug des Trios kommt es allerdings zu einer Begegnung, die für alle Beteiligten ungeahnte Folgen haben soll. Papa Robert lernt seine charmante Sitznachbarin Melanie (Gina Rodriguez) kennen. Man versteht sich nicht nur blendend, spontan steigt die junge Frau in den Familienbetrieb ein - sehr zum Ärger der eifersüchtigen Tochter. Die anfängliche Rivalität weicht allmählich einer wunderbaren Freundschaft, schließlich sorgt Melanie raffiniert dafür, dass alte Familienstrukturen gehörig ins Wanken geraten.

Eine Familienaufstellung à la Miranda July fällt erwartungsgemäß denkbar unkonventionell aus. Da will der Vater etwa gemeinsam mit Melanie nackt in den frisch ergaunerten Whirlpool steigen, den er auf einer Toilette aufgestellt hat. Die hinzukommende Gattin reagiert überrascht, reicht jedoch freundlich die Handtücher. Strenger ist die Frau Mama mit der Tochter, als diese ihr 1.500 Dollar anbietet, damit sie endlich einmal ein liebevolles Kosewort zu ihr sagt. „Du willst Leute mit falschen freundlichen Fassaden aus uns machen!“, reagiert die Mutter schroff. Harmonischer gerät hingegen das philosophische Plaudern der jungen Frauen über das Leben und die Liebe - das passiert in einer Toilette bei völliger Dunkelheit. Mut zum Schwarzfilm zahlt sich allemal in erhöhter Aufmerksamkeit beim verdutzten Publikum aus!

Bei ihrem dritten Kinostreich erweist sich July einmal mehr als ebenso eigenwillige wie einfallsreiche Kino-Poetin mit einem großen Herz für ihre etwas sonderbaren Figuren. Diesmal verzichtet sie auf den eigenen Auftritt, sondern setzt erstmals auf ein Star-Ensemble mit etlichen Oscar-Nominierungen auf dem Buckel. Richard Jenkins und Debra Winger spielen die schrulligen Eltern mit umwerfender Komik und haben spürbar Spaß an solchen Typen. Ähnlich ergeht es „Westworld“-Star Evan Rachel Wood, die sich erst klammheimlich und schließlich immer furioser bisheriger Familienfesseln entledigt - und mit einem verblüffenden Happy End der wunderbaren Art belohnt wird.

Bei so viel erzählerischer Leichtigkeit samt lässig servierter Wow-Effekte lässt sich sogar der Verlust des coolen Kätzchen-Erzählers aus „The Future“ verschmerzen.

Dieter Oßwald