Kalle Kosmonaut

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Die gelungene, warmherzige Langzeit-Dokumentation erzählt von einem Berliner Jungen: Pascal, von allen Kalle genannt, entwickelt sich innerhalb weniger Jahre vom aufgeweckten Kind zu einem Jugendlichen, der mit sich selbst und mit der Welt nicht zurechtkommt. Falsche Freunde, Drogen, Knast …
Hier geht es nicht um Verantwortung, Schuld oder Buße. Vielmehr ist das Kinopublikum aufgefordert, sich selbst ein Bild zu machen und nachzudenken – zum Beispiel darüber, dass es viele andere Kinder wie Kalle gibt: ohne Chancen, ohne Perspektive. Aber mit ein bisschen Hoffnung.

Webseite: https://mindjazz-pictures.de/filme/kalle-kosmonaut/

Deutschland 2022
Drehbuch und Regie: Tine Kugler, Günther Kurth
Kamera: Günther Kurth
Musik: Philip Bradatsch

Länge: 99 Minuten
Verleih: mindjazz pictures
Kinostart: 26. Januar

FILMKRITIK:

Blühende Kornblumen und eine Hummel, die von den Blüten nascht, ein Schmetterling erhebt sich von der Wiese – dahinter wird ein Hochhaus sichtbar. Ein Junge, um die 16 Jahre, steht vor dem Haus und knabbert Snacks aus einer Tüte. Das ist Pascal, genannt Kalle. Er beantwortet Fragen, seine Coolness ist etwas löchrig, er hat auch Angst, denn er weiß nicht, wie es mit ihm weitergeht. Und er erzählt: dass er zu Hause war und Drogen genommen hat, als die Mutter schlief, und dann ist er nachts noch rausgegangen, er hat sich provozieren lassen oder hat selbst provoziert, jedenfalls wurde er gewalttätig – es war wohl nicht das erste Mal. Kalle bereut sein Verhalten, aber gleichzeitig sagt er: „Ich bin nur noch kalt.“ Es wird eine Gerichtsverhandlung geben und mit Sicherheit eine Strafe.

„Ich weiß nicht, wie’s angefangen hat“, sagt Kalle heute. Mit 10 war er ein fröhliches, offenes Kind. Schon früh selbständig, ging er mittags zum Essen in die „Arche“, ein von der evangelischen Kirche finanziertes Projekt gegen Kinderarmut. Er spielte mit den anderen Kindern Fußball und ging abends nach Hause, wo er mit seiner Mutter Kerstin, die tagsüber im Baumarkt arbeitete, noch eine Runde Uno spielte. Drei Jahre später steckt Kalle mitten in der Pubertät, er lungert mit einer Clique von Gleichaltrigen herum, auch ein Mädchen ist dabei. Einige, auch das Mädchen, suchen noch einen Schlafplatz für die nächste Nacht. Schule? – Kein Thema. Von dem fröhlichen Jungen ist wenig übrig. Kalle zieht an seiner Zigarette und sagt, dass er eine Arbeit sucht und dass ihn sein Vater, den er seit Jahren nicht mehr gesehen hat, ein Ghettokind nannte.

Tine Kugler und Günther Kurth lernten den 10-jährigen Pascal 2011 kennen, als sie eine TV-Filmdokumentation über Schlüsselkinder drehten. Daraus entwickelte sich die Idee eines abendfüllenden Dokumentarfilms – eine beobachtende Langzeitdokumentation über Kalle. Insgesamt begleiteten sie den Jungen über 10 Jahre. Niemand konnte ahnten, wie es mit ihm und seiner Familie weitergehen würde. Gemeinsam mit seiner Mutter wohnt Kalle an der Allee der Kosmonauten im Berliner Stadtrandbezirk Marzahn-Hellersdorf. Eine unwirtliche, viel befahrene Durchgangsstraße, viel zu breit, um städtische Atmosphäre oder so etwas wie urbanes Feeling zu vermitteln, gesäumt von einfallslosen 70er-Jahre Kästen, die man seinerzeit in der DDR „Arbeiterzuchtanstalten“ nannte. Kleine und große Ereignisse säumen Kalles Entwicklung: Er besucht Hochzeiten, geht zur Jugendweihe, die erste Freundin, die Mama hat einen neuen Freund, die Oma hört mit dem Saufen auf. Neben Kalle und seiner Mutter gibt es noch ein paar weitere Protagonisten: Oma und Opa oder der nette Sozialarbeiter. Doch im Vordergrund steht die Geschichte dieses Jungen, der mit 16 in den Jugendknast kommt und mehr als zweieinhalb Jahre absitzen muss. Alle sagen, dass Kalle eigentlich ein guter Junge ist, sogar die beiden Streifenpolizisten vom Revier um die Ecke, die ihn schon so lange kennen. Da sind auch immer wieder Andeutungen: übers Dealen, über Drogen, über Gewaltfantasien. Seinen 18. Geburtstag verbringt Kalle in der Strafanstalt. Die Mutter jagt ihm zu Ehren ein paar Raketen vom Balkon aus in den Nachthimmel.

Dieser Film ist kein Soziogramm, er klagt nicht an, sucht weder Schuldige noch benennt Verantwortliche. Er grenzt nicht ab, er vereinfacht nicht, sondern er zeigt und beobachtet. Kugler/Kurth verzichten auf jede Form von voyeuristischem Slumming oder Bestätigung von Klischees, im Gegenteil. Sie lassen ihren Akteuren die Würde und geben ihnen dadurch Raum, sich zu artikulieren. Also keine Sozialschmonzette, sondern dank dem Protagonisten und einer abwechslungsreichen Chronologie mit Zeitsprüngen eine beinahe leichtfüßige Alltagsgeschichte. Wenn Kalle mal über etwas nicht selbst sprechen kann oder wenn es keine Originalbilder dafür gibt, bereichern interessant und höllisch gut gestaltete Animés (Alireza Darvish) die Handlung. Sie bringen eine düstere Stimmung hinein, die ebenfalls zu Kalles Persönlichkeit gehört und mit der er offenbar häufig kämpft. Manches erzählt der Film auch über das, was er auslässt – Kalles Probleme mit dem Vater, Kerstins Probleme mit dem Vater, der viel ältere Bruder, der im Heim aufwuchs und ebenfalls Probleme mit dem Vater hatte. Was haben die Kinder alles erlebt und gesehen, woran sie heute noch knabbern? Tine Kugler und Günther Kurth wollten und mussten ihren Film mit der Unterstützung der ganzen Familie drehen, was vielleicht erklärt, dass einiges nicht thematisiert wird. Es scheint keine festen Ablaufregeln für die Dreharbeiten gegeben zu haben. Manchmal gibt es längere Pausen zwischen den einzelnen Stationen, was die Gesamtstruktur merkwürdigerweise eher stärkt als schwächt, den ohnehin schon interessanten Film noch spannender macht.

Zwischendurch sieht es auch mal ganz gut aus für Kalle, dessen unzweifelhaft vorhandene Fähigkeiten, ebenso wie sein Verstand und sein Humor, in vielen Passagen deutlich werden. Er kann ganz gut rappen, seine Lyrics sind ziemlich gut – am besten ist sein wunderbar Berlinerisches „Nö!“ Im Knast, der ihm nach eigener Aussage überhaupt nichts gebracht hat, konnte Kalle immerhin seinen Schulabschluss nachholen, erzählt er. Dann scheint es wohl auch eine generelle Schulproblematik gegeben zu haben. Nach dem Knast ein Neuanfang – mit 12.000 Euro Schulden aus Schadensersatzforderungen. Vielleicht braucht dieser Junge, der eigentlich erwachsen ist, jemanden, der ihn an die Hand nimmt und nicht wieder loslässt? Weder die überforderte Mutter und die Oma noch die Freundin oder der Sozialarbeiter haben es geschafft. Dazu das Wissen, dass Kalle nicht alleine ist, es gibt viele wie ihn. Manche haben ja Glück, wer weiß … Und Juri Gagarin blickt von der Hauswand durch seinen Raumfahrerhelm auf die Allee der Kosmonauten und auf den Jungen, der vielleicht doch noch eine Zukunft hat.

 

Gaby Sikorski