Normalerweise fliegen die Fetzen, wenn zwei Menschen sich auf der Kinoleinwand streiten: Man flucht, schreit sich an, beschimpft sich … Hanna Siak geht in ihrem Arthouse-Drama „Kein Wort“, wie schon der Titel ahnen lässt, einen komplett anderen Weg. Sie zeigt uns zwei Menschen – Mutter und Sohn – die ihr Schweigen als Waffe einsetzen, um den anderen zu verletzen. Schauplatz dieses wortlosen Kriegs ist eine stürmische Atlantik-Insel. Wer bricht zuerst das Schweigen?
Webseite: https://grandfilm.de/kein-wort/
Deutschland, Frankreich, Slowenien 2023
Drehbuch und Regie: Hanna Siak
Darsteller: Maren Eggert, Jona Levin Nicolai, Maryam Zanee, Juliane Siebecke, Marko Mandiĉ, Mehdi Nebbou, Gina Haller, Yura Yang
Kamera: Claire Mathon
Musik: Amélie Legrand
Länge: 87 Minuten
Verleih: Grandfilm
Start: 4. Juli 2024
FILMKRITIK:
Nina ist Dirigentin und alleinerziehende Mutter. Sie probt mit ihrem Orchester für ein karriere-entscheidendes Konzert mit Mahlers 5. Sinfonie, als ihr Sohn Lars (Jona Levin Nicolai) in der Schule aus dem Fenster fällt. War es ein Unfall oder ein Selbstmordversuch? Als Lars, der glimpflich davongekommen ist, den Wunsch äußert, ein Wochenende im Ferienhaus der Familie auf einer französischen Atlantik-Insel zu verbringen, willigt Nina ein. Sie hofft, in entspannter Ferienatmosphäre ihrem Sohn näherzukommen und herauszufinden, was mit ihm los ist. Doch die idyllische Ferieninsel erweist sich im Winter als toxischer Ort mit einer geradezu feindlichen Atmosphäre. Mutter und Sohn finden nicht zueinander, im Gegenteil: sie entfremden sich, nicht zuletzt, weil sie es nicht schaffen, miteinander zu reden. Lars verhält sich immer erratischer, so dass in Nina ein schrecklicher Verdacht aufkommt: Wurde Lars durch den gewaltsamen Tod einer Mitschülerin nicht nur aus der Bahn geworfen, sondern hatte er am Ende selbst etwas damit zu tun?
Claire Mathon als Kamerafrau hat auf der Atlantik-Insel grandiose, kühle Bilder eingefangen: Die faszinierende, abweisende Landschaft und die mit subtilen Mitteln zu Werke gehenden Schauspieler vereinigen sich zu Bildkompositionen, die im Gedächtnis bleiben. Minimalistische Handlung hin, unterdrückte Gefühle her: Zuschauer, die genau hinschauen und die subtilen darstellerischen Mittel, mit denen Maren Eggert und Jona Levin Nicolai zu Werke gehen, dechiffrieren können, werden trotz der langanhaltenden Sprachlosigkeit der Protagonisten spannende Kino-Momente erleben. Denn spannend ist nicht nur das, was nonverbal zwischen Mutter und Sohn geschieht, spannend sind auch die Themen, die abseits des zentralen Konflikts erzählt werden: Lars‘ Hintergrundgeschichte und die Entwicklungen um Ninas Mahler-Konzert, das plötzlich auf der Kippe steht.
Musik-Kenner und Mahler-Fans sind bei diesem Film im Vorteil, denn Regisseurin Hanna Siak hat ihr Drehbuch kongenial an Mahlers 5. Sinfonie entlang konstruiert. Filmmusik und Handlung nehmen subtil Bezug auf Mahlers Werk, das sich ebenfalls – wie viele Mahler-Kompositionen – um den Verlust von geliebten Kindern dreht. Die Komponistin der Filmmusik, Amélie Legrand, hat geschickt Mahlers Sinfonie mit ihren eigenen Klängen verwoben und spiegelt dabei nicht nur den Mutter-Sohn-Konflikt, sondern schafft in Verbindung mit den Inselbildern eine sehr eigene, manchmal fremdartige, manchmal bedrohliche Stimmung.
„Kein Wort“ ist sicherlich keine leichte Kinokost, dazu ist der Film zu spröde und zu sperrig, ähnlich wie die Beziehung seiner Protagonisten. Doch wer bereit ist, in die schroffe Inselwelt einzutauchen – sowohl auf dem Atlantik als auch im Inneren der Protagonisten – der kann hier Kino in einer sehr impressiven Form erleben: über Menschen, ihre Gefühle und Irrwege. Bis zum Atlantik und zurück.
Gaby Sikorski